Deutsch-deutsche Rechts-Links-Geschichte

■ Das Grips-Theater zeigt »Heimat los!« — ein Theaterstück über Fremdsein, Gewalt und Angst für Menschen ab vierzehn

Es ist schon ein kleines Theaterwunder, das Jugendtheater Grips, das mit seinen Ensemble-Produktionen seit unzähligen Jahren immer wieder unter Beweis stellt, daß gesellschaftspolitisch brisante Themen sehr wohl turnschuhgerecht umgesetzt werden können, ohne dadurch inhaltlich an Tiefe zu verlieren. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Volker Ludwig in das Haus am Hansaplatz rufen würde, um seinen Beitrag zum Thema Fremdenhaß und neue Rechte zu präsentieren. Unter der Leitung des niederländischen Gastregisseurs Herman Vinck vom Werktheater Amsterdam entstand in vierzehnwöchiger Probenarbeit »Heimat los!«, ein Stück über Fremdsein, Gewalt und Angst für Menschen ab vierzehn.

Unabhängig voneinander geraten die acht Jugendlichen des Stücks mit dem Gesetz in Konflikt. Paul, Schlemmi, Maik und Kappi sind Jugendliche aus dem Osten und »rechts«. Orientierungslos in der mauerfreien Werteordnung setzen sie ihren eigenen Frust in Randale um. Wo immer es geht, »mischen sie Kanaken auf«, »vermöbeln Polen«, »ticken Schwule« oder nieten mal eben im Vorbeigehen einen alten Opa um. Ziellos ziehen die vier durch Berlin. Überall ist es besser als zu Hause. Denn da warten sowieso nur unlösbare Probleme: Schlemmis Vater wurde abgewickelt und klebt nun Tüten in Heimarbeit. Maik erfährt erst nach der Wende, daß sein Vater bei der Stasi war, und Kappis Mutter säuft ihren Lebensfrust weg — und das Geld für die Miete. Jetzt droht der Rausschmiß.

Aber auch in der anderen Hälfte der Stadt ist nicht alles Gold, was glänzt. Die Fabrikantentochter Patti wehrt sich mit aller Macht gegen die »Scheiß« Wohlstandsverlogenheit ihres »Scheiß« Elternhauses. Ihre radikale Opposition treibt die »Reiche- Leute-Tochter« schließlich aus dem Haus, auf die Straße. In einem Waschsalon trifft sie ihre Schwester Valeska, und gemeinsam mit der obdachlosen »Mütze« beobachten die beiden, wie zwei Männer die Türkin Ayse anmachen. Natürlich mischt sich die aufrechte Patti ein. Es kommt zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf Patti einen der beiden Typen ersticht.

»Heimat los!« läßt sich viel Zeit, um die Lebenssituation der Jugendlichen in Ost und West vorzustellen, bevor die eigentliche Geschichte beginnt. Dabei gibt es in der Exposition kein Gut und Böse, kein Richtig oder Falsch. Jede Figur wird in ihrer persönlichen Verstrickung gezeigt, jede auch noch so aggressive Aktion bekommt so ihre Berechtigung — das Handeln jeder einzelnen wird nachvollziehbar, selbst wenn es gewalttätig ist. Alle — so lautet die Grips-Botschaft — sind in dieser Zeit des Wertewandels auf der Suche nach Identität, nach Traditionen, nach neuen Aufgaben — auch die Eltern.

Wenn die szenische Erzählweise des Stücks einmal die Innenansichten der Personen nicht adäquat darstellen kann, greifen die Songs aus der Feder von Volker Ludwig (Musik: Josef Willems) vermittelnd ein. Wo das Stück in Rührseligkeit oder Theatralik zu versinken droht, retten komische Aktionen oder schlicht ein guter Witz elegant über die dramatische Untiefe.

Das Stück, das wie immer in intensiven Diskussionen mit dem gesamten Ensemble entstand, besticht vor allem durch seine erstaunliche Leichtigkeit. In den vierundzwanzig kurzen Szenen darf gelacht werden, wo immer und über wen immer es geht. Selbst wenn es streckenweise ans ernstlich Eingemachte geht, wie zum Beispiel im Streit zwischen Maik und seinem Stasi-Vater, gibt es immer wieder komische Momente, die von der notwendigen Theatralik des Augenblicks entlasten. Diese austarierte Balance zwischen Ernst und Witz schadet dem gewichtigen Thema keinesfalls, sondern macht es im Gegenteil so viel greifbarer — begreifbarer. Neben den hervorragenden schauspielerischen Leistungen des gesamten Grips-Ensembles ist diese Form der Katharsis ein wichtiger Teil des Theaterwunders — ein Effekt, den man bereits anhand früherer Grips-Produktionen studieren konnte.

Im zweiten Teil des Stückes treffen sich die beiden Gruppen dann in einem Jugendprojekt wieder. Gemeinsam sollen sie eine Ruine renovieren, sie soll zukünftig ihr Zuhause sein. »Vier rechts, vier links« heißt das neue Strickmuster, mit dem die beiden Sozialarbeiter den gestrauchelten Jugendlichen einen neuen Halt geben wollen. Zunächst gibt es allerdings kaum Gemeinsames zwischen der linken und rechten Haushälfte, der linken und rechten Szene. »Weil wir kein Zuhause haben, müssen wir so tiefe Gräben graben« heißt es in einem Song; die Annäherung ist mühsam, schmerzhaft, aber möglich. Bevor es so weit kommen kann, verhindert die Realität aber auch im Grips das kitschige Happy-End: Überraschend hat die Ost-Ruine einen alten West-Besitzer gefunden, das heißt für die Jugendlichen Rückgabe ohne Entschädigung. Schon wieder sind sie ihre Heimat los.

Klugerweise endet »Heimat los!« an dieser Stelle, auch auf der Bühne kommt es zu keiner Einigung, die nicht vor der harten Realität Bestand hätte. Gerade diese Wirklichkeitsnähe macht auch die neueste Grips- Produktion wieder sehenswert. Es ist ein authentisches, aber kein niederschmetterndes Stück deutscher Realität. Eine deutsch-deutsche Rechts-Links-Geschichte — nicht nur, aber doch besonders für Jugendliche: Denn sie ist voll gut erzählt, super umgesetzt und geil gespielt. Eben echt irres Turnschuh-Theater. Und gar nicht doof dabei. Klaudia Brunst

Weitere Vorstellungen: 2./3. Mai um 19.30 Uhr und 12.-14. Mai um 18.00 Uhr im Grips-Theater, Altonaer Str. 22, Moabit