Alle Freiheiten, nur die eine nicht: aufzuwachsen

■ Kindheiten in Ost- und Westdeutschland: Heute letzter Teil einer Serie/ Der Geist der Kinder wird zunehmend okkupiert von Bildern, die ohne Erfahrung bleiben/ Ihre Körper sind Nebensache/ Eine Streitschrift zur Kindheit in der Krise

Zu Recht erleben wir zur Zeit eine Krise, die an den Grundfesten der Geschlechterrollen rüttelt und ihre Umdefinition einleitet. Es wird Zeit, daß der »Pater Familias« sein rostig gewordenes Zepter abgibt, sich seiner Angst (nichts anderem ist die Unterdrückung der Frau geschuldet) vor dem anderen Geschlecht stellt und aufhört, die Kinder »vaterlos« aufwachsen zu lassen. Ein Betrug, ein Verrat dies, wie ihn Norbert Elias in seiner Jungengeschichte beschrieb: »Aber dann trat aus der grauen Wolke dein Vater und drohte und riß dir den Zaubermantel ab und blies seinen Spott und rötete sich vor Zorn. Da flogen die nutzlosen Vögel von dannen, die kleinen Sterne fielen zu Boden wie Staub, und als du schweigend deine Mutter anriefst, die im Gewölk auf der schmalen Sichel ihres Mondes stand, da holte er tausend Gelächter herbei, die dich peitschten, und du liefest davon durch die Hölle ihrer feisten Schreie ... und flohst getrieben und versunken in Gram ins große Dunkel deiner Wälder.«

Diese Flucht wird hoffentlich ein Ende haben. Irgendwann. Doch zunächst einmal herrscht bei den Erwachsenen Verunsicherung und Überforderung mit der sich anbahnenden neuen Situation — Krise also. Die Kinder sind einmal mehr »vaterlos«, und im Zuge des notwendigen (!) Emanzipationsprozesses ihrer Mütter sind sie oft genug überfordert und alleingelassen. Wieder sind sie Opfer für den Wechsel auf eine glücklichere Zukunft ..., in der eingeweihte Forscher (z.B. Jutta Stich, DJI/München) für die alte »Norm- Familie« keine Chance mehr sehen: keine lebenslangen Verbindungen mehr (»Bis daß der Tod euch scheidet«), sondern diverse Partner in verschiedenen Lebensphasen — Nur eine dieser Phasen wird dem gemeinsamen »Projekt Kind« gehören. Und nur wenn die nötige Reife für dieses »Projekt« bei beiden Partnern vorhanden ist, wird es ohne gravierende Brüche abgeschlossen werden können.

Doch zunächst einmal sind viele Kinder »auffällig«, leiden an der Krise, zeigen Störungen, die neben Signalen für Mißhandlung und Mißbrauch auch solche für die seit einigen Jahren virulent gewordene Kategorie »Vernachlässigung« sind. Nicht die schweren Fälle von »Verhungern-Lassen« etc. sind hier gemeint, sondern das (auch den Existenznotwendigkeiten der Alleinerziehenden geschuldete) Sich-selbst- Überlassen der Kinder — Das alte pädagogische Konzept der ständigen erzieherischen Kontrolle wird zunehmend außer Kraft gesetzt. Soweit die gute Nachricht.

Das Kind wird der Stadt überlassen

Unverantwortlich wird dies nur, wenn statt dessen nicht das verantwortliche »Begleiten« der Kinder gesetzt wird, sondern ein rüdes »Laisser-faire«. Das Kind wird der Stadt überlassen, ihrem institutionalisierten Raum, der Kindern nichts als spezialisierte Plätze bietet, sie ansonsten aber aus dem öffentlichen Leben verbannt.

Ist Ihnen, dem Metropolenbewohner, noch nicht aufgefallen, wie wenig Höfe, Straßen, Plätze Animation für Kinder bieten, so diese Orte nicht ohnehin für sie verboten sind? Geflohen aus dem Getto ihrer Kinderzimmer, vom umtosenden Verkehr und grünen Zäunen in Schach gehalten, finden sie sich auf zugewiesenen Spielplatzparzellen wieder. Kleiner Trost: Der Raum vor dem Fernseher ist noch kleiner, ebenso wie der vor dem Homecomputer. Der Geist der Kinder wird zunehmend okkupiert von Bildern, die ohne Erfahrung bleiben. Ihre Körper sind Nebensache geworden: Ihr Drang nach Ausdruck und Bewegung wurde aufs äußerste gestutzt oder für den Sportclub reserviert. Es stimmt schon, die Kinder sind außen vor. Ihr gestauter Bewegungsdrang kulminiert in Störungen, in Aggressivität und sonstigen Symptomen, mit denen der überraschte Erwachsene überfordert ist — Folgen von Zivilisation, von urban-betoniertem und versiegeltem Leben.

Dort, wo man »Spielstraßen« initiiert, sich einer neuen lebendigen Architektur widmet und Pläne für eine menschenwürdige Stadtplanung entwickelt, hat man das Problem zumindest ansatzweise erkannt. Dort aber, wo Politiker kein Geld für solche Projekte zur Verfügung stellen, sind sie ignorant und lebensfeindlich: Dieses Verhalten steht für die Regel. (Nicht umsonst urteilen mehr als 80 Prozent der gesamtdeutschen Jugendlichen, daß »die Bevölkerung sehr von den Politikern betrogen« wird (Shell-Studie 1991). Da nutzen auch so armselig ausgestattete Feigenblätter wie »Kinderkommission« und »Kinderbeauftragte« nichts, die Wahrheit, die Fritz Perls formulierte, hat Gültigkeit:

»Den Kindern wird jede Freiheit gelassen, nur nicht die eine, wesentliche: aufzuwachsen und Initiative zu ergreifen... Sie hören nicht auf, zur Schule zu gehen.«

Dabei reicht es schon, daß die Kinder Schulen wie die heutigen besuchen müssen — Hat sich hier eigentlich Wesentliches seit der weitestgehenden Durchsetzung der Schulpflicht zu Anfang dieses Jahrhunderts geändert? Hat sich etwa eine kindgerechte, reformierte Pädagogik (oder gar die Abkehr von Pädagogik überhaupt) durchgesetzt? Sind Rilkes Schulträume vom Beginn dieses Jahrhunderts, von einer Schule, die »für die Kinder« da ist, von einem Ort, an dem man klein sein darf, Wirklichkeit geworden? Hat es ein Ende mit der sozialen Ungleichheit der Schüler, herrscht die in den siebziger Jahren vieldiskutierte »Chancengleichheit«?

Nein! Die Schule alten Typus hat sich als außerordentlich resistent gegen Veränderungen erwiesen.

Selbst die traditionelle »Dreigliedrigkeit« des Schulsystems blieb weitgehend erhalten. Die Auslese funktioniert: Gleich von der ersten Klasse an wird die gesellschaftliche und individuelle Zukunft der Kinder festgelegt. Wer macht das Abitur? Wer studiert? Der Status der Eltern bestimmt es — Individuelle Förderung ist nicht vorgesehen. Es herrscht »Interesse an bestimmten Formen sozialer Ungleichheit« (Ludwig von Friedeburg). Schule hat im »Gleichschritt« zu funktionieren. Wer dem Streß nicht gewachsen ist, fällt aus dem System heraus ... zum Schrecken der Eltern, die dem Kind mit hohem Erwartungsdruck begegnen: keine vielversprechende (materielle) Zukunft ohne den entsprechenden Schulabschluß. Wieder einmal vergessen die Eltern, wie es ihnen einst in der Schule erging, welches Maß an Angst, Sorgen und Bedrückung sie womöglich begleitete. Nein, was in der Regel gilt, ist die Projektion der eigenen Wünsche und Bedürfnisse — »Das Kind soll es schließlich einmal besser haben« oder zumindest nicht durchs genormte Schulabschluß-Raster fallen: Die Repression kommt in diesen Tagen äußerst subtil, getarnt als »Notwendigkeit« daher. Zumindest wird gleichzeitig kein Gedanke an das betonverkopfte »System Schule« verschwendet, das im wesentlichen die Bedürfnisse gesellschaftlicher Machteliten erfüllt. Also werden die Kinder den Ansprüchen geopfert. Nicht immer natürlich.

Denn es gibt sie, die kleine Fraktion der Reformpädagogen, es gibt sie, die Eltern, die ihren Kindern während der Schulzeit zur Seite stehen und nicht ihre eigene Schulangst reaktivieren, um sie an den Kindern auszuagieren. Ja, es gibt Widerstand und Emphase, es gibt sogar das eine oder andere Schulexperiment. Es gibt Kinderläden, Freie Schulen und sogar »Elternschulen«. Es gibt Kinderschutzorganisationen, Kindernotrufe, Kindergipfel und eine Kinderrechtskonvention. Es gibt Kindertherapeuten und Kinderkrankenhäuser, Kindermoden und Kinderfilme, Kindertheater und Kinderbücher. Insofern leben wir in einem tatsächlichen »Jahrhundert des Kindes« (Ellen Key) — Reparatur- und Unterhaltungskolonnen stehen bereit. Doch wie steht es mit dem Kind »an sich«, mit seinem Lachen, seiner Trauer, seiner Wut, seiner Angst, seinem Ausdruck, seiner Individualität, seiner Lebendigkeit? Wenn es hoch kommt, wird doch lediglich seine Unversehrtheit geschützt, von einigen wenigen. Sein Leiden wird reduziert: In dem geballten (suizidalen) Technodrama, das die Inszenierung unserer Zeit wesentlich bestimmt, ein Tropfen auf den heißen Stein. Der verzischt und hinterläßt — für kurze Zeit nur — ein wenig Dampf, der den Blick auf das Jahrhundertwerk, das vor uns liegt, nicht verstellen darf: »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen« (Lloyd de Mause).

Wer aber aus Alpträumen erwacht, wischt sich den Schweiß vom Leib und dünkt sich zunächst glücklich (»War ja nur ein Traum!«) ..., bis der drückende Alp wiederkehrt — das scheinbar gottgewollte Geschäft eines Sisyphos. Es käme aber darauf an, die alten Götter und ihre Stellvertreter auf Erden zugunsten der Kinder wie auch der eigenen Lebendigkeit zu verraten: »Wir haben niemals zu jener Art von Er-Wachsenen werden sollen, die die meisten von uns nun einmal geworden sind« (Ashley Montagu). Detlef Berentzen