Verlorenes Paradies

■ Vor 500 Jahren vertrieben die katholischen Könige die Mauren aus Spanien. Die Alhambra von Granada ist bis heute das schönste Zeugnis maurischer Kultur. Ein kulturhistorischer Spaziergang

Vor 500 Jahren vertrieben die katholischen Könige die Mauren aus Spanien. Die Alhambra von Granada ist bis heute das schönste Zeugnis maurischer Kultur.

Ein kulturhistorischer Spaziergang

VON LUCETTE HELLER-GOLDENBERG

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uien no ha visto Sevilla / No ha visto maravilla / Quien no ha visto Granada / No ha visto nada.

„Wer niemals in seinem Leben Granada gesehen hat, kennt die Schönheit nicht“, heißt es in einem spanischen Sprichwort. Die Stadt, gebaut am Fuß der Sierra Nevada im Tal von Darro und Genil, präsentiert sich wie ein halbgeöffneter Granatapfel. So kam die Stadt zu ihrem Namen. Einige Kilometer stromaufwärts, an der Straße nach Motril, liegt der Paß „Seufzer des Mauren“. Ein Eckdatum andalusischer Geschichte: An dieser Stelle blickte 1492 der letzte muselmanische König Boabdil weinend auf jenen Ort zurück, der heute mit seinen architektonischen Überresten den Charme und die besondere Schönheit Granadas begründet: die Alhambra. „Die Sultanin Aixa, seine Mutter, die ihn in auf seinem Weg ins Exil begleitete, wies ihn zurecht: Weine nun wie eine Frau um das Königreich, das Du nicht wie ein Mann zu verteidigen wußtest. Sie stiegen den Berg hinab, und Granada verschwand für immer aus ihren Augen“ (Chateaubriand, 1926).

Granada spiegelt am stärksten die kulturelle Vergangenheit Andalusiens wider. Als im elften Jahrhundert die Macht des Kalifen von Córdoba zusammenbrach, wurde Granada der Sitz des unabhängigen Königtums Tarifa — und sollte es bis zum Jahr 1492 bleiben. Sieben Jahrhunderte spanischer Islam haben ihre Spuren hinterlassen. Am 2. Januar 1492, als die katholischen Könige die Stadt und die Zitadelle einnahmen, endete faktisch die maurische Herrschaft in Spanien. Für die Moslems ist Granada bis heute der Inbegriff des verlorenen Paradieses. Ein nostalgischer Ort. „Wie heißt es doch in einem Sprichwort über einen melancholischen Menschen? Er denke wohl an Granada...“ (Paul Siblot).

Nach dem Willen von Isabella, der katholischen Königin, durfte die Alhambra, die den Höhepunkt der muselmanischen Kunst verkörpert, nicht zerstört werden. Vielmehr sollte sie intakt bleiben als Zeugnis für den Sieg des Katholizismus über den Islam in Europa. Heute ist die Alhambra eher ein Symbol der Reichhaltigkeit und Durchdringung verschiedener Kulturen. Sie stellt den Versuch dar, die Religionen und Mythologien der christlichen, jüdischen, vor allem aber der islamischen Herkunft miteinander zu verbinden.

Aus dem arabischen „el Hamra“, die Rote, wurde Alhambra. Die zentralen Bauten des Palasts, wie der Alcazaba (die Festung), der Alcazar (das Schoß), der Generalife (zur Alhambra gehörende Gärten), sind die Kleinodien der spanisch-maurischen Kunst. Arabische Namen, nur halbherzig umgeformt. Im Palast, im alten Ratssaal, dem Mexuar (Méchouar), im Saal der Barka (Barakha: der Chance), im Saal der Diplomaten und den maurischen Bädern finden sich — gemäß ihrer Bezeichnung und ihrer Verzierung — die Zeugnisse maurischer Spuren. Die Räume mit ihren prächtigen Kuppeln sind mit Kalligraphien dekoriert, die Inschriften zitieren Suren des Korans. Hier findet man in den Stuck gegipste Gedichtpassagen, geometrische Arabesken, Schnörkel, Stalaktitenschmuck, Fliesenböden, die sich bis in die Innenhöfe erstrecken. Zuletzt der Innenhof selbst, wo fallendes Wasser aus den Brunnenbecken die brütende Hitze des granadischen Sommers mildert.

Die Alhambra bezieht ihren Charme aus der Architektur des Palasts, aus den wasserreichen Innenhöfen und Räumen. In diesen rieselt durch die kluge Anordnung der schmalen Bassins beständig das Wasser. Die Gärten des Generalifen mit ihrer Wasserbewirtschaftung sind Inbegriff arabischer Kultur. Mit Hilfe ausgeklügelter Techniken gelang es, aus jenem wichtigen und lebendigen Element Wasser — ganz wie es eine Koransure vorschreibt — Nutzen zu ziehen. Neben der Alhambra besitzt Granada weitere arabisch-muslimische Spuren wie den Albaizin: Das heutige Zigeuner-Viertel mit seinen steilen Hängen war einst der erste arabische Rückzugsort. Vor der christlichen Eroberung flüchteten sich die letzten Mauren dorthin. Das alte arabische Städtchen hat die komplexe Architektur und die eigenwillige Anordnung einer Medina: ein Wirrwarr von engen Gäßchen, malerische Innenhöfe, weiße Häuschen mit wenigen Fenstern, von der Außenfassade oft „blind“, um die Frauen vor indiskreten Blicken zu bewahren, das Haus Chapiz (das heutige Zentrum für arabische Studien), die maurischen Bäder und Banuelos.

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er Schriftsteller Federico Garcia Lorca liebte es, in diesen Gäßchen spazierenzugehen. Zusammen mit Manuel de Falla veranstaltete er seit 1922 in den Gärten der Alhambra den Wettbewerb des Cante Jondo. Das Festival des Cante Jondo findet heute noch jedes Jahr im Juni statt. Charakterisiert ist der Cante Jondo durch Modulationen und Variationen des alternierenden, melodischen Tons. Er ist bezeichnend für die arabische Musik. Die Ankunft der Zigeuner in Granada im 15.Jahrhundert hat eine Veränderung des Canto Jondo durch das Hinzufügen der Vocals bewirkt. Diese eigentümliche Kunstform ist eine Symbiose aus arabisch-andalusischer Musik, die Garcia Lorca zu seiner berühmten Gedichtsammlung Poema del Cante Jondo aus dem Jahre 1931 inspiriert hat.

Noch andere Spuren wecken die Erinnerung an die Mauren: Der Spaziergänger wird den Corral del Carbón entdecken, den alten Fondouk, wo man Kohle verkaufte, das älteste Gebäude in der Stadt, wo heute das Zentrum der Verkaufsausstellung des spanischen Handwerks untergebracht ist. Andere kleine Gäßchen führen zur Plaza Bibrambla. Eine von ihnen, die Alcaceria mit den typisch blauen Kacheln, beherbergt eine Künstler-Kooperative im Stil der arabischen Souks (Handelsviertel). Fliegende Händler verbreiten maghrebinischen Flair. Selbst das traditionelle Essen der spanischen Familien, der Cocido, erinnert an das jüdisch- marokkanische Gericht „shrina“; eine Tatsache, die von den meisten Spaniern gern geleugnet wird.

500 Jahre nach dem Fall von Granada bleibt die Erinnerung an eine multikulturelle Gesellschaft wach, die Juden, Christen und Muslime auf demselben Boden beherbergte. Eine Lektion auch für die Zukunft. Mißtrauen wir aber der Verklärung. Vergessen wir nicht die Schwierigkeiten einer solchen Form des Zusammenlebens: Während der arabischen Herrschaft waren die Juden Spaniens toleriert, die meisten sogar geschützt. Aber durch die Anordnung Omars, dem Statut von „dhimmi“, waren sie gezwungen, eine gelbe runde Scheibe auf ihrer Brust, einen gelben Turban und einen langen Gürtel mit Fransen zu tragen. Der Jude mußte auf der Straße erkennbar sein. Er besaß nicht einmal das Recht, den Rücken eines Pferdes zu besteigen oder den eines Mulis. Nur ein Esel war ihm erlaubt.

Diese Vorschriften existierten zwar, wurden aber von den jeweils Regierenden unterschiedlich eingefordert: teils mit Milde abgewendet, teils mit Unnachgiebigkeit befolgt. Die Christen mußten ihrerseits auf islamischem Gebiet eine Steuer für Ausländer zahlen. Gleichwohl besaß jeder das Recht, seiner nationalen Eigenheit und Religion ungestört nachzugehen. Diese von verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen durchtränkte Gesellschaft bleibt — auch wenn sie nicht ideal funktionierte — ein wegweisendes Symbol für die Zukunft. Für eine Gesellschaft, in der jeder nach seiner Fa¿on leben kann; in einem Gemeinwesen, das kulturelle Vielfalt toleriert. Granada hat Bedeutung für die Gegenwart: „Höret Euch weinen / die Geschichten verlorener Zeiten / das schreckliche Korn, das sie säen / reift von Gedicht zu Gedicht / die wiederbegonnenen Revolten“ (Louis Aragón).

(Übersetzung aus dem französischen: Mirjam Schaub)