Zweiter Anlauf zum Kapitalismus in Rußland

In Nischni Nowgorod (Gorki), der alten Handelsstadt, soll mit der Privatisierung ernst gemacht werden/ Die jungen Kommunalpolitiker sind fest dazu entschlossen, die Anfänge aber bescheiden/ Undurchsichtige Händler steigen ein  ■ Aus N. Nowgorod K.H. Donath

Schnurgerade führt eine holprige Piste vom Flughafen in die Innenstadt Nischni Nowgorods. Daran wäre nichts Außergewöhnliches, trüge sie nicht gerade den Namen Gaidar — im heutigen Rußland ein Synonym für Wandel ohne schmerzstillendes Mittel. Gaidar — Jegor — ist Jelzins Mann der Wirtschaftsreform. Für Rußlands altersergebenes System mit seinen 36 Jahren eigentlich noch viel zu jung, um Glaubwürdigkeit zu erlangen. Wollten die neuen Stadtväter mit der Namensgebung ein nachdrückliches Zeichen setzen? Gegen die Väter rebellieren? Denkbar wäre es. Auch sie sind jung, und Tatendrang wird ihnen nachgesagt. Bis nach Moskau sprach sich herum, Nischni Nowgorod könne als Modellfall der Privatisierung in Rußland gelten. Zur ersten großen Versteigerung reiste aus der Zentrale an, wer Rang und Namen hatte — unter ihnen auch Jegor Gaidar. Doch wie die Leute schmunzelnd zugeben, galt die Ehre des Straßennamens nicht dem jungen Jegor, sondern seinem Großvater. Der war nämlich ebenfalls ein „Neuerer“, als Aufbauliterat und Kinderautor der 30er Jahre versorgte er ganze Pioniergenerationen mit Erbaulichem. In alter Tradition hatte auch Jelzin qua seiner Sondervollmachten den Chef des Nischni Nowgoroder Bezirks selbst ernannt. Der wiederum setzte einen Bürgermeister seines Vertrauens ein.

Allein die Versteigerung eines einzigen Geschäfts erbrachte auf Anhieb den stattlichen Betrag von zehn Millionen Rubel. Regierungsvertreter mußten da ins Schwärmen verfallen. Mit dergleichen Ergebnissen ließe sich das Haushaltsdefizit schneller decken als anvisiert.

Nischni Nowgorod ist malerisch gelegen. Die Altstadt erhebt sich 120 Meter über dem gewaltigen Zusammenfluß der Oka und Wolga. Über beide Wasseradern ist die Stadt direkt mit Moskau verbunden, dessen Stadtfluß, die Moskwa, direkt in die Oka mündet. Auf dem Felsen hoch über der Unterstadt kündet noch der alte großflächige Kreml von der strategischen Bedeutung, die diese Stadt einmal für die Verteidigung des Moskowiterreiches gegenüber den Tataren aus Kasan innehatte. Ihre Blüte erlebte sie im 19. Jahrhundert als wichtigster russischer Messestandort. Der schnell angehäufte Reichtum trug dem Ort den Beinamen „russischer Geldsack“ ein. Das überdimensionale Bankhaus im alten Zentrum, seine Wandmalereien und überreichlichen Stukkaturen aus der Jahrhundertwende legen davon beredtes Zeugnis ab. Sein Eingang wird streng bewacht. In der bahnhofsgroßen Schalterhalle thront immer noch ein eherner Lenin.

Grigori Jewsukow aus dem Magistrat der Stadt segnet als letzter Privatisierungsvorhaben ab. Warum gerade Nischni Nowgorod als Modellfall? Für ihn hat es etwas mit der Historie und der Mentalität seiner Bewohner zu tun. Ihnen stehe Kompetenz etwas näher. Auf der Insel der Unterstadt ist denn auch das alte Messegebäude wieder in Betrieb genommen worden. Zur Zeit beherbergt es eine Ausstellung „Familie, Sport und Spiel“. Jewsukow mag nicht ganz falsch liegen. Doch bis vor kurzem hieß Nischni Nowgorod noch Gorki und war eine der wichtigsten Waffenschmieden des Sowjetreiches. Ausländer hatten keinen Zutritt, nicht zufälig wurde Andrej Sacharow hier in die Verbannung geschickt. Noch heute stellt die beherrschenden Unternehmen der Stadt der militärisch-industrielle Komplex. Seine Arbeiterschaft gehörte zu den Privilegierten des Systems.

Jewsukow läßt es sich nicht nehmen, mit in das Geschäft „Lider“ — Führer — zu kommen, das die zehn Millionen eingebracht hat. Natürlich weckt das Assoziationen an nicht allzu ferne Zeiten. Und die neue „Geschäftsführerin“ windet sich, konkret zu werden. Woher stammt das Geld..., aus Krediten? Nur ein Drittel des ehemaligen Arbeiterkollektivs hat sich zur Genossenschaft zusammengetan. Der Rest arbeitet im Angestelltenverhältnis. Zur Herkunft des Geldes meint die Direktorin, mit einem verstohlenen Blick auf Jewsukow, „das ist Geschäftsgeheimnis“. Es sei ja nicht die ganze Summe, die man zahlen müßte, lediglich drei Millionen im Laufe des ersten Jahres, versucht sie dem Gesprächsverlauf eine andere Wendung zu geben. Wohin? Natürlich! Die hohe Besteuerung, die den Neuunternehmern gleich das Wasser abgrabe. Alle sechs der fünfzehn „freigegebenen“ Kleinunternehmen, die bisher „privatisiert“ wurden, hätten keine neuen Eigentümer gefunden. Sie wurden lediglich auf fünf Jahre Pacht vergeben. Dann erst wolle man sehen, ob man sie endgültig verkaufen kann.

Keiner kennnt die Spielregeln des Marktes

Die energische Ökonomin Ludmilla Sinizena im Magistrat, die zum kleinen „Privatisiererstab“ gehört, begründet das mit den mangelnden Erfahrungen vieler Pächter im Umgang mit allem, was mit „Eigenständigkeit“ zu tun habe. Sie selbst, vorher in einem Großbetrieb tätig, gesteht freimütig: „Ich kann das noch gar nicht beurteilen, verstehe die Logik nicht, weiß nicht, welche Spielregeln gelten.“ Ihrer Kollegin Ludmilla Gorchmann geht es ähnlich. Sie kommt bei jeder Gelegenheit auf die soziale Gefahr zu sprechen. Beide Seiten, Angestellte wie Pächter, kennen die Bedingungen noch nicht. Es fehle an sozialen und rechtlichen Sicherheiten. Die städtische Kommission hat nicht nur die Wirtschaftlichkeit zu bewerten, sondern offenbar auch die moralische Verläßlichkeit der Antragsteller zu evaluieren.

Wer drängt zur Selbständigkeit? Im „Lider“ war die alte auch die neue Direktorin. Sie verfügt über die entscheidenden Verbindungen zu den Verteilerinstanzen des alten Systems. Angefangen bei der Produktion über den Transport bis hin in die Administration. Ein Grundgesetz des Übergangs zur Marktwirtschaft, in Nischni Nowgorod wie überall, besteht darin, daß die alte Nomenklatura die Gunst der Stunde und ihrer Vergangenheit tatkräftig beim Schopfe packt. Ein wenig anders sieht es im Geschäft „Fiaker“ aus. Auch hier führt die Geschäfte eine Frau. Doch vor dem Büro, hinter dem Verkaufsraum, harrt ein Pulk junger Männer. Ohne sich auszuweisen kommt man keinen Schritt vorwärts. Mißtrauen hängt in der Luft. Swetlana Mironowa fungiert zwar als offizielle Pächterin, doch das Geld gaben ihr die geschmeidigen Männer vor der Tür, alle in den Zwanzigern. Sie kommt denn auch kaum zu Wort, die großen Entwürfe, allzugroße, liefern die Geldgeber. Womit sie ihr Geld gemacht haben, bleibt auch hier im dunkeln. Nach den „Kooperatoren“ der Anfangszeit stellt diese Spezies die neue Schicht der „Bisnessmen“.

Anderthalb Millionen Menschen leben in Nischni Nowgorod. Sechs Geschäfte haben einen Pächter gefunden. Von Konkurrenz kann da keine Rede sein. Was sich erst später herausstellte: Freigegeben sind nur die Betriebe, die der Stadt gehören. In der Mehrzahl Klein- und Mittelunternehmen. Betriebe, die dem Bezirk oder Rußland unterstehen, fallen nicht darunter. Sie sind aber die wichtigen Produktionsstätten. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen bescheidenen Anfang. Vielleicht wird eines Tages die Straße vom Flughafen in die Stadt doch nach dem Enkel Gaidars heißen.