Die Verzweifelten in den Ghettos folgen eigenen Gesetzen

■ Wut und Zorn über die strukturelle Benachteiligung der schwarzen Minderheit finden ihre Ursache in der Politik der Ignoranz der Ära Reagan und Bush

„Appelle an die Vernunft sind nur zu verständlich: Sie reflektieren einen Sinn von Verantwortlichkeit seitens der Regierung und der Führer der Bürgerrechtsbewegung. Aber sie berücksichtigen sicherlich nicht die Tatsache, daß Individuen, die systematisch von den Privilegien eines Mittelklasse-Lebens ausgeschlossen wurden, sich nicht nach Mittelklasse-Werten benehmen. Jene, die in den Ghettos verzweifeln, folgen ihren eigenen Gesetzen — im allgemeinen den Gesetzen der Unvernunft.“

Was Kenneth Clark 1965, einen Monat nach den Rassenunruhen in Watts, in der 'New York Times‘ als Erklärung für die vermeintlich sinnlose Gewalt in dem schwarzen Stadtteil von Los Angeles schrieb, könnte auch heute wieder in den Zeitungen stehen. 27 Jahre nachdem sich in Watts der Zorn und die Frustration der Schwarzen über die Benachteiligung einer von Weißen dominierten Gesellschaft in Schlägereien, Brandstiftung und Plünderungen entluden, ist das Faß erneut übergelaufen. Der sprichwörtliche Tropfen war der unerwartete und für die meisten Amerikaner (weiß wie schwarz) unverständliche Freispruch von vier Polizisten, die im März 1991 einen schwarzen Autofahrer brutal zusammengeschlagen hatten. Er hatte angeblich Widerstand geleistet und deshalb die Prügel verdient — wie die Anwälte der Beamten argumentierten. Für die Schwarzen in den USA, die rund 12 Prozent der etwa 250 Millionen Amerikaner ausmachen, war die Brutalität der weißen Polizisten damals jedoch nur ein weiterer Beleg für deren Rassismus.

Bush und Reagan seien für die gewaltsamen Proteste in Los Angeles mitverantwortlich, analysierte am Tag nach den ersten Ausschreitungen Diane Watson, demokratische Senatorin in Kalifornien. Und meinte damit die Politik der beiden konservativen Präsidenten, die in den vergangenen zwölf Jahren die Begünstigung der Reichen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben gesetzt haben. Ihre Wahlsiege haben Reagan und Bush ganz wesentlich jenen unzufriedenen Weißen der unteren Mittelklasse zu verdanken, die sich von der Sozialpolitik der Demokraten in ihrer Existenz bedroht sahen. Reagan nutzte den Slogan von der umgekehrten Diskriminierung; die von dem Demokraten Lyndon B. Johnson Anfang der sechziger Jahre als Antwort auf die Rassenunruhen geschaffenen und unter Nixon weitergeführten Programme, die eine Vorzugsbehandlung der Schwarzen in Beruf und Schule gegenüber ihren weißen Konkurrenten vorsahen, wurden als Quotenregelungen verdammt.

Indem Reagan und Bush versuchten, wahlpolitisch Kapital aus dem zunehmenden Rassismus zu schlagen, gossen sie nur mehr Öl ins Feuer. Eine der beliebtesten Anekdoten von Reagan war die über die „Welfare Queen“, eine Frau, die angeblich mit Hilfe von 80 verschiedenen Namen und 30 Adressen jährlich rund 150.000 Dollar an staatlicher Fürsorge kassierte. Reagans begeisterten Zuhörern war immer klar, daß die Hautfarbe der Frau schwarz war, schließlich stellten die Schwarzen den weitaus größten Teil der Fürsorgeempfänger. George Bush ließ im Wahlkampf 1988 einen Spot produzieren, der ihm reichlich Wählerstimmen einbrachte. Der Schwarze Willie Horton, ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, der während eines Hafturlaubs eine weiße Frau vergewaltigt hatte, konnte geschickt die Ängste der Weißen vor schwarzer Kriminalität schüren.

Während Reagan und Bush also die rassistische Stimmung im Land schürten, entzogen sie gleichzeitig der schwarzen Unterklasse das ohnehin schon löchrige soziale Netz. 1981 setzte Reagan eine Ausgabenkürzung in Höhe von 48,6 Milliarden Dollar durch, die unter anderem 400.000 Menschen von der Liste der Essensmarkenempfänger nahm und Sozialfürsorge und öffentliche Krankenversorgung für die arbeitenden Armen wesentlich reduzierte oder sogar ersatzlos strich. Der öffentliche Wohnungsbau wurde in den Folgejahren verringert und Tausende damit auf die Straße oder in Obdachlosenheime geschickt. Auf der anderen Seite sorgte Reagan dafür, daß es den Reichen an nichts mangelte. Verteilt über fünf Jahre wurden ab 1981 die Steuern für die Wohlhabenden und für die Industrie um 749 Milliarden Dollar gekürzt. Für jene 20 Prozent der Haushalte, die sich an der Spitze der Einkommensskala befanden, sank die Steuerlast von 1980 bis 1985 um 3,3 auf 24 Prozent, die unteren 20 Prozent mußten dagegen eine Steigerung von 2,2 auf 10,6 Prozent hinnehmen.

Und obwohl die schwarze Mittelschicht dank der Bürgerrechtsbewegung substantiell gewachsen ist — von nur 20 Prozent der schwarzen Haushalte 1940 auf mehr als 55 Prozent 1980, haben sich die Lebensbedingungen für die schwarzen Minderheit wesentlich verschlechtert. Drogen, Kriminalität und Arbeitslosigkeit haben diese Bevölkerungsgruppe besonders hart getroffen. Appelle auch aus den eigenen Reihen, die Opferhaltung abzulegen und sich an den eigenen Haaren aus dem Dreck zu ziehen, finden kein Verständnis. Theorien von einer weißen Konspiration gegen die Schwarzen haben dagegen in jüngster Zeit wieder Hochkonjunktur. Vor 27 Jahren brannte Watts sechs Tage und sechs Nächte. Am Ende waren 34 Tote und 883 Verletzte zu beklagen, der Sachschaden betrug 40 Mio. Dollar. Martina Sprengel