Der süße Sieg über sich selbst

■ Beim internationalen Kyudo-Turnier trafen sich geduldige Individualisten zum Bogenschießen

Kreuzberg. Dieser mein Atem ist nun eins mit dem Atem des Alls. Löst sich jetzt der Pfeil, so findet er das Ziel von selbst. Denn alles geht den Weg, der ihm vorherbestimmt ist. Nicht der Finger löst den Pfeil von der Sehne, nicht das Auge bestimmt den Weg, nicht mein Wille bringt ihn mitten ins Schwarze. Hier ist kein Ich, das Pfeil und Bogen beherrscht, sondern ein Ich, das sich der Spannung der Sehne ausliefert, dem Willen des Bogens unterwirft. Hat er genug, so soll der Pfeil fliegen. Selbst bin ich nur ein Hauch, der von dieser Welt geatmet wird, ein Luftzug, vergänglich wie das Pfeilsirren. Bin ich denn eins mit dem All, so kann der Pfeil nicht fehlgehen, sondern findet das von ihm bestimmte Ziel. Ich aber habe einen süßen Sieg über mich selbst erlangt, denn ich habe mich verloren in diesem allem und gefunden als ein Teil davon.

Zum Internationalen Städteturnier im Kyudo trafen sich die besten Kyudokas Europas in der Kreuzberger Columbiahalle. Aus London und Helsinki kamen sie, aus Hamburg und Berlin, aus Mailand und Amsterdam. Rund 500 Aktive in Deutschland, davon 40 in Berlin, gehen einer ehrwürdigen Kunst nach, die mit dem gewöhnlichen Bogenschießen nur wenig gemein hat. Sie betreiben einen Sport, der sich nicht vom Spiel herleitet, sondern vom Kampf.

Durch tausendjährige Tradition und Ritualisierung der animalischen Instinkte entledigt, soll diese Kampfkunst der Selbstüberwindung dienen, dem Menschen zum Sieg über sich selbst verhelfen. In mönchischer Kleidung treten sie an, weißes Hemd und schwarzer Rock, jede ihrer Bewegungen ist vorgeformt. Vom richtigen Stand und Heben des Bogens über das Lösen des Schusses bis zum verhaltenen Zurücktreten sind die Formen festgelegt. Auch das richtige Atmen wird über Jahre trainiert, bis es dem Meister wie selbst über die Lippen kommt. Wer sich ganz der Form hingibt, wird am sichersten schießen. Geschossen wird mit dem überdimensionalen japanischen Bogen, dessen obere Hälfte erheblich länger ist. Diese Erschwernisse sollen den Schützen auf sich selber zurückwerfen, denn nur wenn er die Technik meistert, wird er das Ziel treffen. Dem Ziel ist es völlig gleichgültig, ob es nun getroffen wird oder später oder überhaupt nicht. Auch dem Schützen soll nicht der Treffer wichtig sein, sondern die Hingabe an eine fortwährende, lebenslange Aufgabe. Beten Mönche siebenmal täglich, so heben die Kyudokas immer wieder den Bogen.

Doch auch Mönche müssen rauchen. Wir ertappen einige der noch nicht vollends geläuterten Teilnehmer in der Raucherecke, wo sie denn auch frei von der Leber weg reden. Rasch geben sie sich als versprengte Individualisten auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen zu erkennen. Kein anderer Sport stellt eine solche Herausforderung an sie dar wie das Kyudo. Am ehesten das Iaido, die ebenfalls martialische Kunst, das Schwert zu ziehen. Billig ist diese Beschäftigung nicht; schon gar nicht, wenn man es gern ein bißchen besser hat. Ein Schußhandschuh kostet von 200 Mark bis unendlich, einen Bogen bekommt man ab 500 Mark, für einen einzigen Pfeil kann der Connaisseur auch gerne 2.000 Mark hinblättern. Sie sprechen von den unvermeidlichen Krisen in jeder Kyudo-Karriere, die dann einsetzt, wenn man sich fortgeschritten glaubt. So wenig diese Kampfkunst publikumswirksam oder mediengerecht ist, so unnahbar erscheint sie dem Anfänger. Ein halbes Jahr kann vergehen, ehe der Neuling für würdig befunden wird, den Bogen in die Hand zu nehmen. Ein weiteres Jahr kann mit dem Schießen auf den Strohballen vergehen.

Seit zehn Jahren sind sie hier in der Lehre, ohne daß ein Meisterbrief absehbar wäre. Und selbst der Schritt zum Dan kann zu einer qualvollen Prozedur werden; ein japanischer Kyudoka absolvierte kürzlich in Hamburg die Dan-Prüfung und mußte dabei ein 120 Meter entferntes Ziel treffen. Als der erste Tag sich neigte, waren viele Pfeile geschossen, doch keiner mit meisterlicher Hand. Erst gegen Ende des zweiten Tages gelang der Schuß ins Ziel. In der Columbiahalle war das Ziel nur 28 Meter entfernt, und dennoch gingen die meisten Pfeile fehl. Schüchtern klapperte eine Handvoll Applaus, wenn alle vier Pfeile auf der Scheibe stakten. Das Gesicht des Schützen zeigte keine Regung. Beim nächsten Mal schoß er alle Pfeile daneben. Schieße ich? Schießt es? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wieviel Zeit bleibt uns? Olga O'Groschen