Taschenpapst gegen Bumerang-Hintern

Die gewohnt dramatische Borussia aus Dortmund verliert beim 2:2 gegen Mönchengladbach einen wichtigen Punkt/ BVB mit 21:0 Deutscher Eckball-Meister/ Zorcs Ausgleich in letzter Minute  ■ Aus Dortmund Ernst Thoman

Nach dem ersten langen Paß kurz nach dem Anstoß zur zweiten Halbzeit ging die Welt unter. Panisch- depressiv suchte die schwarz-gelbe Wand im ausverkauften Westfalenstadion nach Worten. Die Dortmunder Südtribüne, Stehplatzheimat der kulturell wohl wertvollsten Fans in der Bundesliga, fand immer eine Antwort auf Rückschläge. Doch jetzt blieb dieses „Bo-rus-si-a“ aus fünfzehntausend Kehlen im Halse stecken. Torhüter Klos mußte den Ball aus dem Tornetz grabschen. Gladbachs Fach nämlich hatte lang auf Criens gespielt, dessen Schuß prallte von einem Borussenbein vor die Füße des zur rechten Zeit zufällig am rechten Ort befindlichen Martin Wagner: Die Borussia aus Mönchengladbach, noch mit dem Abstieg kämpfend, führte beim Möchtegern- Meister mit 2:0! Die schöne Hoffnung auf den Titel schien wie vom Fallbeil exekutiert. Die Fans durchlebten zitternd, manche weinend, allesamt stumm, die fußballerische Beisetzung ihres liebsten Traums.

Die Borussia vom Niederrhein hatte soeben aus der zweiten Chance das zweite Tor gemacht. Die Bierstadt-Borussen führten nach Eckbällen bereits mit 15:0. Sie machten vom Anpfiff an Sturm und Drang, besaßen ein halben Dutzend klarer Chancen und schüttelten sechs Mal den Kopf, denn Gladbachs Torhüter Uwe Kamps hatte wieder den Papst in der Tasche. Der Rosenkranz direkt aus der Hand des Heiligen Vaters steckt immer in seinem Torwartbeutel neben dem Pfosten. Und was für einen Maradona die Hand Gottes sein mag, sind für den praktizierenden Katholiken Kamps die Fäuste Wojtilas. Mit überirdenen Reflexen boxte er die Bälle über die Querlatte zur Ecke. Ein Trauma, dieser Kamps und diese beiden Tore.

Gladbachs frühe Führung durch Karl-Heinz Pflipsen (10.) steckte die Fangemeinde noch als marginalen Störfall weg. Criens führte da einen Freistoß blitzschnell aus. „Clever gemacht“, befand Dortmunds Coach Otmar Hitzfeld ohne eine Spur von Hader; doch „der Ball ruhte nicht, die Ausführung war eine klare Regelwidrigkeit.“

Schwerer als dieser Verstoß gegen die DFB-Regel 17 schien der doppelte Punktbetrug aus den letzten Spielen in Köpfen und Beinen der Schwarz-Gelben zu liegen. Da wurden klare Tore in Nürnberg und Stuttgart nicht gegeben — vielleicht entscheidende Fehlpfiffe im Titelkampf. Und plötzlich war dies nicht mehr die Borussia '92, wenngleich Otmar Hitzfeld verbalasketisch analysierte, daß Gladbach über eine Stunde lang „hervorragend organisiert“ gewesen sei. Was dem höchsten Lob aus dem Munde des einstigen Mathematiklehrers gleichkommt.

Der Trainer übersah dabei nicht, daß ein Rummenigge dem Spiel mental hinterherlief. Oder Nationalspieler Helmer gedankenverloren über seinen Vertragspoker sinnierte. Aber öffentlich sagte „Otti“ keinen Ton.

Und so hätte er hilflos die erste Heimniederlage erlebt, wäre da nicht zwei Minuten nach Eintreten der 0:2-Friedhofsruhe eine Meldung aus Stuttgart gekommen: Die Kickers führten gegen den VfB! Allein diese Zwischenergebnistablette metamorphierte die Südtribüne in die gewohnt wackelnde Wand. Mit dem Prinzip Hoffnung standen sie wieder wie eine Eins hinter ihrer Elf. Und die Spieler, deren schwarze Hosen auf dem Hinterteil ein gelber Rundbogen ziert, kamen zurück wie der Bumerang. „Den Arsch wieder hochkriegen“, so nennt man das im Ruhrgebietskolorit.

Kapitän Michael Zorc (74.) erköpfte den Anschluß, traf sechs Minuten später den Pfosten (da, wo der Papst in der Tasche lag), und kopfballerte eine Minute vor Schluß zum Ausgleich. An den langen Pfosten, wo der Kampsche Rosenkranz eben nicht lag. Und im Getöse um die Auferstehung der Borussia ging völlig unter, daß sie beim Abpfiff wahrhaft Deutscher Meister waren — mit einem Eckballkonto von 21:0. Bundesligarekord.

Die Dortmunder Klubspitze ist jetzt unisono von der Doppelmeisterschaft überzeugt. Manager Michael Meier, Klosterschulabitur mit Griechisch, Hebräisch und Latein, der schöngeistige Wirtschaftsanwalt und Präsident Dr. Gerd Niebaum und Trainer Hitzfeld glauben fest an ihre „Ottifanten“, denn „Frankfurt und Stuttgart stehen unter Druck — wir aber spielen mit Lust“.

Borussia Mönchengladbach: Kamps — Fach — Klinkert, Huschbeck — Kastenmaier, Pflipsen (67. Max), Schulz, Schneider, Neun — Criens (90. Hochstätter), Salou

Tore: 0:1 Pflipsen (10.), 0:2 Schneider (46.), 1:2 Zorc (74.), 2:2 Zorc (90.)

Zuschauer: 52.600

Borussia Dortmund: Klos — Helmer — Schulz, Kutowski — Lusch (46. Mill), Zorc, Rummenigge, Franck (67. Poschner), Reinhardt — Povlsen, Chapuisat