Minimale Übertreibung

■ Die 3. Münchner Biennale des Musiktheaters hat begonnen: Private Spender und sinnstiftenden Geklöppel. Erste Rezensionen von Helmut Mauró

So richtig eingeschlagen hat er nicht, der Auftakt zur Biennale, aber gefallen hat er und sehr neugierig gemacht. Weit über 1.000 Leute pilgerten (während die U-Bahner streikten) zur Eröffnung der 3. Münchner Biennale, dem inzwischen international bekannten Festival für neues Musiktheater. Auch der Oberbürgermeister kam, sah und redete: „Da sind wir schon froh, daß wir so was in Münchn ha'm.“ Letztes Jahr noch gab es Gerangel um den Kulturetat, und man war nahe daran, die Biennale zu „verschieben“. Jetzt aber, in der allgemeinen Freude, wäre auch der größte musikalische Unsinn auf den Wogen guter Publikumslaune dahingeschwommen. Hans Werner Henze, künstlerischer Leiter des vierwöchigen Spektakels, hat sich wieder einmal als versierter Politiker erwiesen. Private Spender, die Stadt München und BMW öffneten ihre Portokassen für das inzwischen prestigeträchtige Ereignis.

Das begann nun mit zwei Kurzopern. Antigona Furiosa und Das Gastspiel. Die Antigone — streng nach Euripides — war, was die Musik und vor allem die lächerliche Inszenierung betrifft, eines der überflüssigsten Machwerke, gäbe es da nicht diese wunderbare Frau, die Hauptdarstellerin Graciela Alperyn. Ihre volle runde Stimme und ihre dramatische Kraft retteten den ersten Teil des Abends. Hector Guedes als Corifeo überzeugte ebenfalls, aber diese Mezzosopranistin hat doch alle anderen weit hinter sich gelassen. Über alle Plumpheiten hinweg — die sandfarbenen Tücher mit dem aufgemalten Polyneikes-Körper, die unbeholfene Lichtregie, die primitive Gestik — trug ihre Musikalität. Leider hatte sie nicht genug Gelegenheit, den scheppernden Tenor David Aldred zu übertönen, denn der war, gelinde gesagt, ein Fehlgriff.

Das spanische Libretto und die Musik schrieb Jorge Lidermann aus Buenos Aires. Sein Gefühl für tragende Gesangslinien ist bemerkenswert, besonders natürlich in den Monologen von Graciela Alperyn, aber die Begleitung durch drei Klaviere schiebt alles an den Rand des Kitsches. So harmonieselig und gefühlsduselig hätte das nicht sein müssen. Die beigeordneten drei Schlagzeuggruppen waren, was das Instrumentale betrifft, die Hauptsache. Hätte man sie nicht so weit voneinander entfernt plaziert, wäre durch unmittelbaren Blickkontakt sicher präzises Zusammenspiel möglich gewesen. So aber bestaunte man einzig Peter Sadlo, den Meister der Perkussion. Die Vorstellung lag nahe, er allein hätte die Untermalung des Gesangs bestreiten können, so sehr war auch die Komposition sein Schlagwerk ausgerichtet. Wie feinfühlig und sinnstiftend dieses Geklöppel doch sein kann!

Frank Wedekinds Der Kammersänger ist die Vorlage für Jan Müller- Wielands Gastspiel. Vor rot-grün- gelb-weiß-lila-rot-blau-farbenen Tafeln sitzen die Protagonistinnen und Protagonisten. Bei ihrem ersten Einsatz stehen sie auf, und ein Schild mit der Figurenbezeichnung wird nach vorne geklappt. Mit einfachsten Mitteln entwarf Claus Guth Figuren und Handlung. Drei Lichteinstellungen, kaum Bewegung auf der Bühne — trotzdem wird ein Geschehen vermittelt. Die Geschichte vom vielgeplagten und von Bittstellern belästigten Opernstar ist allerdings kaum mehr als eine Aneinanderreihung von Einzelcharakterisierungen: die naive Gesangsschülerin, der penetrante Komponist, der unschuldige Liftjunge und so weiter.

Die Entscheidung über Gelingen oder Katastrophe lag also bei den Sängerinnen und Sängern. Das „Gesangsensemble der Münchner Biennale“ zeigte beachtliches Können, besonders Eva-Maria Kuhrau als Miß Coeurne und Keith Eugen als Komponist. Die Begleitmusik ist zwar am Text entlang komponiert, aber wirkungsvoll. Durch minimale Übertreibung des Ausdrucks und etwas zu große Sprünge entsteht Komik; die Technik funktioniert sowohl im Gesang als auch im Instrumentalensemble (gleiche Besetzung wie im ersten Stück). Die Momente wirklicher Lacheffekte aber sind selten, etwa wenn der Komponist beim Vortrag seiner Oper („Ich will den Hermann singen“) in Rage kommt bis an die Grenze des Herzinfarkts, dann abbricht und nur noch stöhnt, der Kammersänger kurz und trocken bemerkt: „Nicht schlecht.“

Der zweite Abend sollte die eigentliche Eröffnung sein, ein erster Höhepunkt der Biennale. Im Programmbuch als Aufmacher, in den Vorankündigungen der Presse mit großen Erwartungen bedacht. Le Livre de Fauvel ist die Geschichte vom Esel, der erster Mann im Staate wird. Dieses gravierende Problem beschäftigte schon Literaten des 14. Jahrhunderts. Im berühmten Roman de Fauvel ist es als Satire abgehandelt, und am zweiten Biennale- Abend als Tanzstück dargeboten. Leider sehr einfallslos: Ein gelbes Bühnenoval mit rotem Querstreifen, akademisch verschlüsselte Filmmusik, hin und hereilende Tänzer. Unter verstörenden Schlagwerkgeräuschen kriechen die Darsteller durch eine langgezogene Plastikvagina ins Freie. Zwei Sängerinnen knödeln im Orchestergraben. Dazu hektische Bewegungen der Tanzgruppe, aufreizend, aber sinnleer. Sie tauschen diversen Kopfschmuck — Jägerhut und Bischofsmütze —, die musikalische Untermalung markiert plumpe Symbole, Martialisches zur Schirmmütze etc. Unter der Bühnenrampe kauert, wie einst Oskar Matzerath, der Fauvel. Schmeichelndes Saxophon und furchterregende Streicher- Klavier-Schlagzeug-Klänge locken ihn hervor. Der erste Soloauftritt von Bohdan Lahola läßt hoffen, daß die Geschichte vom Fauvel doch abhebt. Lahola hat die Kraft der Darstellung und jene Bühnenpräsenz, die der übrigen Truppe abgeht. Dem Choreographen Riccardo Duse, zweiter Mann des Bayerischen Staatsballetts, ist einfach nichts eingefallen. Die an sich spannende Story, die technischen Möglichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer, alles verpufft in sinnlosem Hin- und Hergerenne à la Pina Bausch, und spätestens nach einer halben Stunde ist man von den einschläfernden Geräuschen aus dem Orchestergraben in sanften Schlummer versetzt.