Rot-Grüne ärgern schwarze Witwen

■ Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 19)/ In Wilmersdorf arbeiten SPD und AL noch einmütig zusammen/ Hauptstreitpunkt mit der CDU ist die Verkehrspolitik

Wilmersdorf. Glaubt man den Lästermäulern des Grips-Theaters, dann ist der typische Wilmersdorfer weiblichen Geschlechts, trägt schwarze Klamotten, hat eine deutschnationale Gesinnung und mindestens 70 Jahre auf dem Buckel. Nach dem Theaterstück Linie 1 gilt die Witwe nicht von ungefähr als Maskottchen des rundherum gutbürgerlichen Bezirks. Daß liegt nicht allein daran, daß es in Wilmersdorf tatsächlich viermal mehr Einrichtungen für Senioren als für Jugendliche gibt. Nein, man denkt vor allem an die Friedhofsruhe in den noblen Wohngegenden am Südwestkorso oder Grunewald, an den energischen Widerstand von Anwohnern gegen die Rückbenennung von Nazi-Straßennamen, an Sauberkeit und Langeweile. Der soziale Standard ist hoch in Wilmersdorf, türkische Gangs kennen die Einwohner nur aus dem Fernsehen. Ausschreitungen in der Bundesallee, Barrikaden am Fehrbelliner Platz — einfach undenkbar.

Doch trotz aller Ruhe und Beschaulichkeit haben die »Wilmersdorfer Witwen« ihren Bezirk nicht ganz so erfolgreich gegen Russen, Chaoten und Grüne verteidigen können, wie sie es sich im Linie 1-Musical wünschten. Man denke nur an die russisch-orthodoxe Christi-Auferstehungskirche am Hohenzollerndamm oder an die Parkplatzsuche, die wohl in keinem anderen Bezirk so chaotisch verläuft. Und »grün« ist Wilmersdorf ohnehin, erinnert AL- Baustadtrat Uwe Szelag. Bei den letzten BVV-Wahlen konnte die Igelpartei beachtliche 16,6 Prozent einfahren. »Wir sind mittlerweile Rechtsanwälte, Ärzte und Lehrer geworden und wohnen in einem Bezirk, wo wir es uns leisten können«, erklärt sich der Baustadtrat das gute Ergebnis.

Uwe Szelag ist es zu verdanken, daß Wilmersdorf mindestens ebenso viele Poller wie Witwen aufbieten kann. Wo die Poller stehen, haben Anwohner bereits ihr Auto abgeschafft, und BesucherInnen kommen mit dem Bus. Wo die Poller dagegen fehlen, parken Autos nicht selten in zweiter Reihe auf dem Bürgersteig. Besonders kraß ist die Situation in der Nähe des Ku'damms, wo viele Kneipengäste nicht auf den ÖPNV umsteigen wollen. »Unser Ziel ist die autofreie Innenstadt«, betont Szelag und erntet damit den erbittertsten Widerstand der CDU. Auf ihrem bislang einzigen Wahlflugblatt beschweren sich die Christdemokraten, daß Szelag in den letzten Jahren sowohl 1,5 Millionen Mark für Poller ausgegeben als auch für über drei Millionen Mark Straßen umgebaut habe. Die CDU hält dagegen: »Das Sommerbad Wilmersdorf wird auch in diesem Jahr kein benutzbares Nichtschwimmerbecken haben.«

Kein Wunder, daß nicht nur in der Verkehrspolitik die Zusammenarbeit zwischen SPD und AL blendend funktioniert. Selbst die Große Koalition auf Landesebene konnte nicht verhindern, daß die meisten Anträge in der BVV von beiden Parteien gemeinsam gestellt werden. »Das gilt insbesondere für Kultur und Schule«, meint Volksbildungsstadträtin Hella Dunger-Löper (SPD). »Ich kann mir keinen Bereich vorstellen, wo es mit der CDU besser klappen könnte als mit der AL.« Dunger-Löper, einzige Frau im Bezirksamt, machte sich vor allem mit konsequenter Frauenpolitik einen Namen. In ihrer Abteilung wurde eine Frauenvertreterin nach dem Landesantidiskriminierungsgesetz gewählt, unter anderem ermöglichte sie den Aufbau von Frauenliteraturcafés.

Dagegen präsentiert sich die Wilmersdorfer CDU im Wahlkampf altväterlich und stockkonservativ. Welche Vorstellungen in der Baupolitik herrschen, demonstriert etwa eine von Bürgermeister Horst Dohm (CDU) herausgegebene Broschüre über den Bezirk. Darin stellt er drei Bauwerke als »neue Wahrzeichen des Bezirks« heraus: das Alu-verkleidete Hochhaus der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, das Gasturbinen-Kraftwerk mit seinen hundert Meter hohen Schornsteinen an der Stadtautobahn und die grausliche Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße.

Die Abwahl Dohms, der seit 1981 auf dem Bezirksthron hockt, ist der größte Wunsch vom SPD-Spitzenkandidaten Werner Kleist, derzeit Stadtrat für Jugend und Sport: »Nach zwanzig Jahren CDU-Herrschaft muß endlich Schluß sein.« Da der Bürgermeister diesmal nicht automatisch an die stärkste Fraktion fällt, sondern von der BVV-Mehrheit gewählt wird, hat Kleist gute Chancen, Dohms Amt zu übernehmen. Die AL signalisierte zwar ihren Wunsch, lieber eine Frau zu wählen, doch scheint die Igelpartei selbst nicht allzu konsequent zu sein. Statt der früheren Senatssprecherin Ingvild Kiele nominierte die Bezirksgruppe mit Baustadtrat Szelag ebenfalls einen Mann zum Spitzenkandidaten.

Scheinen die Wilmersdorfer Parteien in der BVV die klassischen Rollen einzunehmen, fallen sie in ihren Landesorganisationen schon mal aus dem Rahmen. Aus der Wilmersdorfer CDU heraus kam im letzten Jahr Kritik am »blassen Eberhard« Diepgen sowie die Forderung nach Trennung seines Amtes und Mandats. Etwas links steht traditionell auch die Wilmersdorfer SPD, die sich vehement gegen die Koalition mit der CDU sträubte. Dagegen ist die AL als Realo-Hochburg verschrien. Neben den Ökologischen Demokraten und den rechtsextremen »Republikanern« versucht die PDS im Witwenbezirk ihr Glück. Statt auf kommunale Themen setzen die demokratischen Sozialisten auf Fundamentalopposition. Man wolle sich »nicht mit einer Scheindemokratie abspeisen lassen«, heißt es in einem »Offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger«. Indem sie die Situation bei der Stasi-Aufarbeitung mit der Judenverfolgung im Dritten Reich verglichen, begaben sich die Genossen jedoch von vornherein ins politische Abseits.

Einziges Thema, wo die Parteien an einem Strang ziehen, ist die Abgrenzung von den »Republikanern«, die mit zwei Sitzen in der BVV vertreten sind. Daß die beiden Rep-Herren noch nicht den Antrag gestellt haben, dem Bezirk seinen alten Namen »Deutsch-Wilmersdorf« von 1906 zurückzugeben, mag verwundern. Auf heftige Ablehnung stieß jedoch ihr Antrag, Sozialhilfe künftig nur noch Deutschen zukommen zu lassen. Die Ausländerquote liegt in Wilmersdorf zwar im Berliner Durchschnitt, doch sind damit vor allem Briten und Amerikaner erfaßt. Mehr noch als SPD und AL macht Bezirksbürgermeister Horst Dohm aus seiner Verachtung gegenüber den »Republikanern« keinen Hehl.

Trotz der aktuellen Wahlumfragen rechnen nur wenige mit dem Wiedereinzug der Rechtsextremen in die BVV. »Für die braunen Schmuddelkinder ist der Bezirk zu clean«, meint ein Mitglied der Friedensini. Aber auch sonst schlagen die Wellen nur selten hoch in Wilmersdorf — dem einzigen Bezirk, wo die Melodie der Rathaus-Telefonanlage nicht besser passen könnte: Mozarts Kleine Nachtmusik. Micha Schulze

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