INTERVIEW
: »Das Beste ist die Verkehrsvermeidung«

■ Der Verkehrsplaner Hans Joachim Rieseberg zu den Lehren des Streiks für den Verkehr

taz: Die ÖTV streikt, und auf den Straßen der Stadt geht nichts mehr. Dürfen wir uns darüber freuen, weil es beweist, daß ohne Bahn und Busse eine Stadt wie Berlin bereits jetzt nicht mehr funktioniert?

Hans Joachim Rieseberg: Das ist je ein widersprüchlicher Vorgang: Der öffentliche Nahverkehr, den wir wollen, der steht still. Damit ist erst einmal das Gegenteil dessen erreicht, was man will. Wir müssen wollen, daß sich das ganze Verkehrsgeschehen ändert. Eines der Rückgrate dessen ist der öffentliche Nahverkehr.

Der steht nun still, und das andere System des individuellen Autoverkehrs wird in Gang gehalten. Nun funktioniert das mehr schlecht als recht. Aber das ist ja noch keine positive Aussage, wie es sein müßte. Und es funktioniert auch nur deshalb teilweise, weil jetzt die Lücke des öffentlichen Nahverkehrs durch den vermehrten Individualverkehr und den Fahrradverkehr ausgefüllt wird.

Also kein Lob des Stillstands, weil der positive Lerneffekt begrenzt ist?

Was ich positiv sehe, das ist im Grunde nur, daß die Menschen jetzt lernen, sich überhaupt wieder über den Verkehr Gedanken zu machen und anders mit dem Begriff Verkehr umzugehen. Das Beste ist deshalb erst mal die Verkehrsvermeidung, die jetzt stattfindet. Man tut vieles nicht, was man tun wollte. Das ist aber ein ganz wichtiger Ausgangspunkt für die zukünftige Diskussion: zu begreifen, daß Individualverkehr ein Überflußprodukt ist. Deswegen ist der wichtigste Lösungsansatz für die Zukunft die Verkehrsvermeidung.

Die zweite Feststellung ist: Wenn es den öffentlichen Nahverkehr auf Dauer nicht gäbe, dann würde diese Stadt zusammenbrechen.

Und der dritte Denkansatz wäre: Wie kann man es erreichen, daß auch der Individualverkehr bestreikt wird. Wenn beispielsweise die Mannschaften, die die Ampeln betreiben, streikten, dann kann nichts mehr funktionieren. Die Aussperrung des Autoverkehrs haben wir nur einmal vor langer Zeit beim Fahrverbot von 1973 während der damaligen Ölkrise gehabt. Es fehlt die Erfahrung, daß der öffentliche Verkehr bevorzugt wird, auch der Fahrradverkehr und der Fußgängerverkehr wieder befreit wird von den gegenwärtigen Zwängen und dem Vorrang des Individualverkehrs.

Sie sehen also jetzt mit einem lachenden und einem weinenden Auge den Zusammenbruch des Verkehrs in Berlin?

Natürlich. Weil der positive Denkansatz, der in diesem Streik liegen könnte, erst einmal begriffen werden muß. Wir müssen jetzt darüber nachdenken, daß der Individualverkehr nicht der Vorrang des Autos ist, sondern von der Grundstruktur her das Zufußgehen und das Fahrradfahren. Vor allem das Fahrradfahren, weil es schnell ist, höchst individuell ist und auch Transportmöglichkeiten hat. Dieser Ansatz, darüber nachzudenken, ist der positivste beim ganzen Streik. Während das Nachdenken über die Funktion des öffentlichen Nahverkehrs erst noch nachkommt. Das Gespräch führte Gerd Nowakowski

Siehe auch Berichte auf den Seiten 3 und 21