Ein Tabubruch

■ Den Antisemitismus gesellschaftsfähig gemacht

„Die Juden waren die Würze in der Suppe der europäischen Kultur. In Rußland haben sie sie versalzen: die Suppe ist ungenießbar geworden“, sagt die russische Publizistin Sonja Margolina in ihrem Erstlingswerk in deutscher Sprache. Das Ende der Lügen, lautet der Titel des Bändchens, dessen Klappentext hervorhebt, die Autorin breche „ein Tabu“. Margolinas These ist schlicht: Die russischen Juden hätten sich einer bisher unterschlagenen „geschichtlichen Sünde“ schuldig gemacht. Ihre „exponierte Mitwirkung“ am Aufbau des kommunistischen Regimes habe den Totalitarismus erst ermöglicht.

Kurz: „Ohne Juden waren die Bolschewiki kaum in der Lage, das Land auf eine sozialistische Bahn zu bringen“ — ein „Fakt“, dem sich die heutige jüdische Welt — wie der Titel schließen läßt — bisher durch Lügen entzogen habe.

Der Sündenbock ist also gefunden. Historisch haltbar ist diese These nicht. Im Gegenteil — linke Juden kämpften, so lange es ging, außerhalb und auch gegen die Bolschewiki. Erst nach dem Verbot des jüdischen Arbeiter-„Bund“ der Poale Cion („Arbeiter Zions“) und der Menschewiki, als ihnen nichts anderens mehr blieb, um sich legal zu organisieren, sammelten sich Teile der jüdischen Linken im trotzkistischen Flügel der Bolschewiki. Natürlich waren sie im traditionell antisemitischen Flügel, unter den Stalinisten, nicht vertreten. Als Feinde des Stalinismus wurden sie 1936-38 im Zuge der ersten Säuberungswellen ermordet.

Die Autorin bricht tatsächlich ein Tabu, das des Antisemitismus nämlich, dessen klassische Formen sie reproduziert. Sie lastet dem Kollektiv „die Juden“ Schuld für die Verbrechen des Kommunismus an. Doch schon ihre Fragestellung ist falsch. Warum ist relevant, ob oder wie viele der kommunistischen Kader jüdisch waren? Margolina behauptet, daß „auffällig viele“ Juden in den kommunistischen Kadern gewesen seien, so viele, daß sie von einer „jüdischen Hegemonie“ spricht. Ihre These belegt sie mit keiner einzigen Zahl. Läßt man sich auf ihre Fragestellung ein, wird man feststellen, daß nicht mehr Kommunisten jüdischer Herkunft in den Kadern waren, als ihr Anteil in der Intelligenz allgemein betrug, das heißt etwa ein Fünftel.

Juden werden in Margolinas Buch nicht, wie vorne angekündigt, „als Opfer und Täter zugleich“ dargestellt, sondern hauptsächlich als Täter. Dabei wurden allen während des Bürgerkriegs 80.000 Juden umgebracht, weitere 100.000 verstümmelt oder verletzt.

Obwohl die Revolution den Juden formal die Gleichberechtigung brachte, wurden durch die kommunistische Herrschaft die jüdische Kultur und Tradition großteils vernichtet. Margolina erwähnt diese Fakten beiläufig, in kurzen Passagen, fast als Pflichtübung. Daraus ergibt sich eine totale Verzerrung der Perspektive, die die Autorin zur These verleitet: „Die Juden waren die Elite der Revolution und ihre Gewinner“ — blanker Hohn, bedenkt man, daß neben all den anderen jüdischen Opfern auch die Kommunisten jüdischer Herkunft unter Stalin ermordet wurden.

Ohne jede Scheu reproduziert Margolina Denkfiguren und Motive der antisemitischen Propaganda der 20er und 30er Jahre. So war „der jüdische (lettische) Kommissar mit Lederjacke und Mauserpistole typisch für das Erscheinungsbild der revolutionären Macht“. Ihre Analyse gipfelt in der bekannten These, die Juden selbst seien am Antisemitismus schuld. Letzterer entstehe vor allem „durch die Erfahrungen, die die Masse der Juden und ihre Umgebung miteinander gemacht haben“. Da reicht die Anwesenheit von Juden schon aus: „Je mehr Juden nach Deutschland kommen, desto mehr Spannung löst ihre Einwanderung aus.“ Zusätzlich bewirkten Eigenschaften, die „häufiger bei Juden als bei Nichtjuden anzutreffen sind“, Judenhaß: z.B. „Infantilismus“, „Narzißmus“, „Überlegenheitsgefühl“, „Unfähigkeit zur Übernahme von Verantwortung“. Margolinas Argumentationsschema ähnelt erstaunlich dem Antisemitismus der nationalistischen Schriftsteller Rußlands. Der stalinistische Kommunismus ist für sie eine Invasion von außen, ein gigantisches antirussisches Verbrechen von „Fremden“. Auch Margolina behauptet: „So ist es auffällig, wie stark Letten... innerhalb der Straforgane vertreten waren. Und schon die Zeitgenossen stellten fest, daß die grausamsten Mordtaten von Gott weiß woher aufgetauchten Chinesen ausgeführt worden seien.“ Schuld sind die „anderen“ — Juden, Letten, Chinesen.

Margolinas Verlag versucht, Antisemitismus gesellschaftsfähig zu machen, indem er seine Autorin ausdrücklich als „Jüdin“ präsentiert. Dies geschieht ausgerechnet beim Siedler Verlag, einem renommierten Haus, in dem Politiker von Strauß bis Schmidt verlegt werden, aber auch die rechtslastigen Protagonisten des Historikerstreits, Stürmer und Hillgruber. Auch die 'FAZ‘ hat die Gelegenheit genutzt, Margolinas Buch zu würdigen, indem sie ihre Unwahrheiten kritiklos präsentierte. Ihren Antisemitismus beschönigte sie als „Bruch anti-antisemitischer Konventionen“. Martina Kirfel

Sonja Margolina: Das Ende der Lügen. Siedler Verlag, Berlin 1992, 160 Seiten, 29,80DM