Frommer Glaube, starke Erotik

■ Ein Nachruf auf Olivier Messiaen von Dieter Schnebel

Erinnerungen — fünfziger Jahre: Aufführungen in Darmstadt, dem Zentrum der Avantgarde-Musik, oder im Radio, zum Beispiel Mode de valeurs et d'intensitées: radikaler Konstruktivismus, gänzlich durchserialisierte Musik und blanke glänzende Töne. Zum Beispiel Cinq Réchants: Chormusik von einer bis dato unerhörten Virtuosität, weiträumig bewegteste Melodik, dazwischen Konsonantkaskaden, rituelle Ekstatik. Zum Beispiel Turangalila-Sinfonie: eigentlich ein Monstrum, überlang und monumental, mit skurril indischer Exotik — und mit knallbuntem Kitsch. Zum Beispiel Quatuor pour la fin du temps: Musik von großer Stille, dann wieder Eruptionen, solche gerade in einem einstimmigen Stück aus raschen Sechzehnteln, merkwürdige Satzüberschriften wie etwa: „Liturgie vom Kristall, Abgrund der Vögel, Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit ankündigt“.

Messiaens Musik erschien ebenso faszinierend wie befremdlich, war so ganz anders als die Schönbergs, Weberns oder Varèses, die trotz aller Radikalität bald vertraut vorkam. Sie hatten eben etwas Exotisches, und ihre Mystik irritierte. In Frankreich mochte das anders gewesen sein. Messiaen machte dort bereits in den dreißiger Jahren Furore mit Werken wie Les offrandes oubliées oder L'ascension, die in ihrer Klanglichkeit die Linie Debussy-Ravel — und des französischen Strawinski direkt fortsetzten. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Entwicklung der modernen Musik 1933 abgebrochen wurde und nach 1945 neu aufzunehmen war, ging die Geschichte der Neuen Musik in Frankreich in den 30ern und 40ern einfach weiter. Der hochangesehene Messiaen, der in deutscher Kriegsgefangenschaft in Görlitz sein Quatuor komponiert und aufgeführt hatte, war nach dem Kriegsende sofort wieder präsent und scharte Schüler um sich: erst Boulez, später Stockhausen und Xenakis. Messiaen war ein glänzender Theoretiker, der sich nicht nur mit Neuer Musik befaßte, sondern auch mit der Musik der alten Griechen, mit Gregorianik und mit indischer Musiktheorie — und mit der Musik der Vögel. Sein stark spekulatives Interesse galt also nicht musikalischer Archaik, sondern auch der musikalischen Natur, wie sie sich eben im Gesang der Vögel äußert — bekanntlich war Messiaen auch ein richtiger Ornithologe. Jedenfalls betrieb er eine Art musikalischer Grundlagenforschung, in deren Mittelpunkt die musikalische Zeit stand. Anders als Schönberg, der sich primär um die Organisation der Tonhöhen kümmerte und in der Gestaltung der Rhythmik schlicht traditionell verfuhr, entwickelte Messiaen gerade eine Lehre der solchen, ja eine Theorie der musikalischen Zeit. Der berühmte Mode des valeurs et d'intensité von 1949 dehnte das serielle Prinzip rigoros auf die Parameter der Zeit und der Lautstärke aus. Die so gewonnene Klanglichkeit prägte die Musik der 50er: frühe Klavierwerke Boulez' und Stockhausens klingen wie Ableitungen aus Messiaens Stück — wie er überhaupt neben Webern und Varèse der Avantgardemusik Anstöße und Richtung gab.

Er selbst aber blieb eher abseits der stürmischen Entwicklung, obschon er in Werken wie etwa der schon im Titel bezeichnenden Chronochronic die neue Musikentwicklung begleitete; ging seinen eigenen Weg weiter zu der ebenso rational klaren wie emotional ekstatischen Musik von apokalyptisch christlichem Inhalt. Er hatte schon in seinen ersten Werken entschieden diese Richtung genommen, und nach dem Quartett auf das Ende der Zeit 1940 erreichte sine Schaffen 1944 im riesigen Klavierzyklus 20 Blicke auf das Jesuskind (Vingt regards sur l'enfant Jésus) einen Höhepunkt in einer Klaviermusik, welche die Debussy'sche Virtuosität noch potenzierte. Weitere Marksteine sind die ebenso virtuosen Orgelwerke Livre d'orgue (Orgelbuch) und Messe de la Pentecôte (Pfingstmesse) (1950-53), dann La transfiguration de Notre- Seigneur Jésus-Christ für Solisten, Chor und Orchester (1965-70), schließlich das große Bühnenwerk Saint-Fran¿ois d'Assise (1978-83).

Messiaen ist ein sehr französischer Komponist, der ebenso Debussy fortsetzte in seiner — auch oft exotischen — Klangfarbenkomposition wie — dies wohl eher unbewußt — Satie in seiner eigenartigen Klangmystik. Universal aber erscheint seine Musik in ihrer tiefen Religiosität, die mehr ist als bloß katholisch — eine Art französischer Bruckner. Vielleicht liegt die Bedeutung Messiaens in diesem Jahrhundert gerade darin, daß ihm einzigartig wie auch dem österreichischen Meister eine neue Musik gelang, die frommen Glauben ausstrahlt — und eine starke Erotik.

Der Autor ist Komponist (unter anderem glossolalie für Sprecher und Instrumentalisten, 1959). Er lehrt an der Berliner Hochschule der Künste und bereitet zur Zeit für die nächsten Donaueschinger Musikfestspiele „eine Art Sinfonie“ vor.