Nicht ganz schwindelfrei

Eine Reise in Provinztheater der ehemaligen DDR. Erste Folge: Brandenburg in Brandenburg  ■ Von Klaus Nothnagel (Text) und David Baltzer (Fotos)

Unter dem märkischen Sand, im Lande Brandenburg, ist die Erde doch eine Scheibe: äußerst flach, gemütlich weit, mit vereinzelt vor den Horizont gesetzten Bäumen und den langen, laubenförmigen Alleen. Kurz vor dem Rand der Scheibe hockt, zur Zeit nicht ganz schwindelfrei, die Hunderttausend-Einwohner-Stadt Brandenburg. Ihre Einwohner scheinen genau so zu sein, wie Auswärtige sich die Berliner immer noch vorstellen: freundlich, ulkig, flott bei Sprache und ohne alle Scheu gegenüber Mitarbeitern einer Zeitung, die man in der kleinen Stadt nicht kennt.

Bei schaurigen 48Prozent Arbeitslosigkeit haben die Brandenburger zur Zeit kaum Geld für Kultur übrig. Schwer vorstellbar, anfangs, für unsereinen: Die teuerste Eintrittskarte des Theaters kostet nur neun Mark. Aber bei zwei arbeitslosen Eltern und zum Beispiel zwei halbwüchsigen Kindern fragt man sich wohl dreimal, wohin mit dem Kleingeld. Stolz sind die Brandenburger trotzdem auf ihre Bühne — was leider nur bei den Premieren zu merken ist. Spätestens nach der dritten, vierten Vorstellung bröselt das Publikum einfach weg, 40 Leute bedeuten dann schon fast „guten Besuch“. Ob Operettiges auf dem Spielplan steht, Peter Turrinis Sauschlachten, eine Mozart-Oper oder (wie fast überall) Taboris Mein Kampf: die Leute bleiben weg. Mit dem Mut der Verzweiflung jagt das 270-Seelen-Theater in wahnwitziger Geschwindigkeit Premieren über die Bretter; im Durchschnitt etwa eine pro Monat. Intendant Eckehardt Prophet, Jahrgang 1938 und vor Beginn seiner Intendantenkarriere fast 20 Jahre lang als Schauspieler und Regisseur tätig, ist unbeeindruckt von Berliner Witzeleien („Schon von der Brandenburger Premiere dieser Woche gehört? — Macht nichts, nächste Woche ist wieder eine!“). Ihm ging es in seiner kurzen Amtszeit, seit Herbst '90, zunächst einmal darum, die Existenzberechtigung des Hauses unter Beweis zu stellen. Tatsächlich hat der gewaltige Output des kleinen Theaters die Stadt- und Landesväter merken lassen, daß eine 100.000-Leute- Stadt sogar in schweren Krisenzeiten ein Theater mit festem Ensemble braucht. Glückliche Konsequenz aus der Einsicht: Im März '92 wurde der Grundstein fürs neue Brandenburger Theater gelegt. Immerhin 45 Millionen soll die Umgestaltung kosten — nicht zuviel Geld, wenn man bedenkt, daß durch die Baumaßnahme das Haus überhaupt erst eine Chance bekommt, ein erfreulicher, akzeptabler Ort urbaner Kunstgeselligkeit zu werden. Denn: Wer sich jetzt schon traut, vom zentral gelegenen kleinen Park aus das Foyer der ehemaligen Tanzwirtschaft zu betreten — der wird nicht glauben, daß in einem derartigen krankenkassenhaften Ambiente überhaupt Kunst gedeihen kann. Während der Pausen steht das Publikum verloren und verlegen herum; wer nicht ins benachbarte Restaurant oder in die nette Kantine will, kriegt nichts zu trinken (bei den makabren Klos fast ein Vorteil). Während der Vorstellungen muß man sich bei Lichtständen, die leicht in den Zuschauerraum „streuen“, schon heftig aufs Bühnengeschehen konzentrieren, um nicht wehrlos der innenarchitektonischen Schaurigkeit Typ „runtergekommene Klein- Stadthalle“ zum Opfer zu fallen.

Umgebaut werden muß, und zwar so schön wie möglich; auch wenn die Zuschauerräume zur Zeit meistens schwach gefüllt sind (angeblich 60Prozent Platzausnutzung) und das Ende der Bonner Übergangssubventionen in Sicht ist.

Schumann war schon da

Wo man hinsieht, ist Theater in der kleinen Stadt. Die PR-Abteilung arbeitet flächendeckend; Plakate, Handzettel, Spielpläne, alle vom hübschen Nadelbaum-Signet des Hauses gezeichnet. In der Fußgängerzone, irgendwo zwischen „Beate-Uhse-Modenschau“ und der obligatorischen Videothek; in unserem Hotel, einem absurden alten Parteizwangslager mit Jugendherbergsduschen am Gang; im konkurrenzlosen alternativen Kulturzentrum mit Kneipe, dem „Fontaneclub“ (auch heiter „Fontanelle“ genannt): Das Theater stellt sich aus, kämpft um sein einstweilen verschwundenes Publikum.

Die Abteilung „Öffentlichkeitsarbeit“ des Brandenburger Theaters residiert — kontraproduktiv und uns daher DDR-typisch anmutend — einige hundert Meter entfernt vom Haupthaus, in der Nachbarschaft eines schön abgeblätterten alten Lichtspielhauses. In dessen Eingangsbereich hökert tagsüber eine fliegende Händlerin Socken und anderen Alltagskleinkram.

Der PR-Chef des Theaters, Christian Schumann, hat ein Büro, dessen Inneneinrichtung offenkundig seit dem 9.November 1989 unter Denkmalschutz steht. Mein Eindruck nach den ersten zwei Begegnungen mit Schumann: Er braucht Trotz für seinen Job, Renitenz gegen's Realitätsprinzip, das die Leute aus guten Gründen vom Theater fernhält.

Als ich ihn nach unserer ersten Brandenburger Vorstellung frage, warum die Stimmung insgesamt anregt, der Schlußbeifall aber merkwürdig verhalten war, sagt Schumann: „Die Leute hier sind nicht daran gewöhnt, sich euphorisch zu verhalten.“ Und über das Seniorenpublikum dieser Vorstellung: „Man darf nicht vergessen, daß Ost-Rentner im Schnitt zehn Jahre älter sind als westliche!“ Mit Rentnern kennt der emsige Schumann sich bestens aus: Wann immer eine Produktion kurz nach der Premiere nicht mehr „läuft“ (also bei fast allen Vorstellungen des Hauses) — sofort tobt Schumann los und kapert im flachen Land eine Busladung Greise, die dann mit ihrem freundlich-altersmürben Humor ein dankbares Publikum bilden. Im Arbeitsalltag des seufzenden und ewig rennenden Schumann sind Brandenburger Theaterprobleme zu einem schwer überblickbaren Rätsel verwickelt: Wie schafft man es, die Leute anders als zu DDR-Zeiten ins Haus zu kriegen — denn „damals“ konnte es zum Beispiel einem Facharbeiter durchaus Punkte für die „Brigade-Akte“ bringen, wenn man ihn oft im Theater sah. Und Punkte in der Akte brachten mehr Geld! Ein gar nicht blödes und sehr sympathisches System: Die Abreiß-Teile der Theaterkarten als eine Art Coupon zur bescheidenen Verbesserung des materiellen Lebens! Und heute? Wo sind die Leute bloß? Was machen die nur? rätselt Schumann melancholisch im fast menschenleeren Theaterfoyer. Erklärungsversuche für das Ausbleiben des Publikums gibt es reichlich. Genaues weiß keiner. Und Schumann soll die Quadratur des Kreises schaffen: Theater mit möglichst neuen und wirksamen Ideen präsentieren — aber wenn man ihn nach seinem Etat fragt, wird er bleich und sagt: „Lassen wir die Frage lieber!“

PR-Tricks, und seien sie noch so innovativ, dürften in den Provinzregionen der „Fünf neuen Länder“ ohnehin enge Wirkungsgrenzen haben. Denn das „öffentliche Leben“ ist hier offenbar weitgehend kollabiert. Unbelebte Straßen, deprimierend wenige Cafés und Kneipen; Brandenburg wirkt wie eine aufgegebene Stadt. Trübe. Makaber und oft auch rührend komisch sind die Beobachtungen, die man als Fremder macht. Die Männer in Mausgrau, die Frauen (ungelogen!) oft in geblümten Kleidern, die leider unvermeidlichen Hündchen — und auch in Brandenburg schon der täglich zweifache Verkehrsstau. Ganze Alltagsbildfolgen legen die Vermutung nahe, daß die DDR nicht einen Moment lang aufgehört hat zu existieren. Man glaubt immer wieder, auf mysteriöse Weise in ein Zeitloch, ein historisches Vakuum gefallen zu sein. In den nächsten Tagen trösten wir einander mit blöden Witzen: Immer wenn zum Beispiel ein Reisebus mit älteren Insassen vorbeirollt, sagt einer von beiden: „Potz! Hier war Schumann auch schon!“

Identitätswechsel?

„Ich war Parteimitglied von 1973 bis 1989. Eingetreten bin ich, weil ich damals — wie heute auch noch — an die Notwendigkeit einer sozial gerechten Welt glaubte!“ Die Regisseurin Renate Breitung, Jahrgang 1938, gibt ungefragt Auskunft. Bevor sie 1984 nach Brandenburg kam, war sie Chorsängerin in der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Regieassistentin bei Ruth Berghaus, mit 36 Jahren dann Regiestudentin („die älteste Studentin der DDR“) — und von 1980 an Oberspielleiterin in Freiberg/Sachsen. In der „Neuen Probebühne“, dem behelfsmäßigen kleinen Spielort des Brandenburger Theaters, ist von Renate Breitung eine Produktion zu besichtigen, die Qualitäten wie Katastrophen des „Provinz“-Theaters im Osten zeigt. Ein sauber und flott inszenierter Abend der leichten Muse, Das Himmelbett: ein Mann, eine Frau, erstes Kennenlernen bis Greisenliebe. Dazu ein Pianist, der schön und überwiegend sensibel begleitet — und Renate Breitung selbst, am Lichtpult, als Souffleuse und notfallhalber auch mal als lebender Haken für eine urplötzlich zu kurze Wäscheleine. Die einfache Erklärung für Frau Breitungs Ämterhäufung: Die Produktion mußte in kürzester Zeit einspringen, weil eine andere ausfiel; Zeit, einen Beleuchter einzuarbeiten, war nicht mehr — also mußte die Regisseurin selbst den Ablauf retten. Im rasenden Brandenburger Spielrhythmus, im Kampf um jeden Zuschauer, soll möglichst keine einzige Vorstellung ausfallen — außerdem hatte Freund Schumann natürlich wieder die Geronten der Region herbeispediert; und die dürfen nicht frustriert werden!

Leider ist Das Himmelbett bei der Gelegenheit vom großen ins kleine Haus verschoben worden — das Bühnenbild paßte natürlich nicht mehr, man stoppelte sich irgend etwas

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Jammervolles zusammen, teils glitzernden, teils schäbigen Krempel, Zufallsgerümpel, unter anderem aus einem älteren Hello Dolly-Bühnenbild. Daß das Stück dazu noch fürchterlich reaktionär ist, ranzigste Frauen- und Männerbilder ungeniert verklappt, stört weder das bollemäßig mitgehende Publikum noch Frau Breitung. Sie schätzte zwar den wilden Stil ihrer Lehrmeisterin Berghaus, hat sich aber nach eigenen „unkonventionellen“ Versuchen entschieden, „daß wir in erster Linie für's Publikum inszenieren müssen“. Zur Zeit, sagt sie, wisse man zwar gar nicht, was man spielen solle: „Es ist ein Glücksspiel.“ Die Brandenburger hält sie für ein „ausgesprochenes Operetten- und Konzertpublikum“. Tatsächlich sind nicht nur jährlich sechs Sinfoniekonzerte mit je drei Abenden gut verkauft — auch Frau Breitungs Himmelbett-Vorstellung war voll, wohllaunig, lebendig. Aber gibt's das? Eine Regisseurin vollzieht einen kompletten künstlerischen Identitätswechsel, vom Unkonventionellen zum handwerklich gut gemachten Klein- und Kleinstbürgertheater — ohne psychische Schädigungen? Oder bildet sich Renate Breitung die Echtheit dieser Kehrtwendung nur ein, weil sie, wie alle anderen Ost- Theatermenschen auch, nach langen Jahren relativer Sicherheit den Kampf um Publikum und Arbeitsmöglichkeiten aufnehmen mußte?

Zwischenspiel im Erdenglück

In Brandenburg wird nicht nur für erfreulich viel Geld das bedrohte Theater umgebaut — es schießen offenbar auch überall neue Zeitungen und zeitungsähnliche Produkte aus der Druckerpresse. Ein solches Produkt lernen wir persönlich kennen, in Gestalt zweier Kollgen, die wir zufällig beim Einsatz beobachten. Schauplatz: ein wundervoll ostmäßiges kleines Café an der Peripherie Brandenburgs. Die Inneneinrichtung, die kleinen theatralischen Alltagsbegebenheiten, das Essen (inclusive der anbetungswürdigen Suppe „Soljanka“): Alles an diesem Ort löst in uns Westberliner Besuchern die charakteristische Mixtur aus tiefster Sozialdepression und humoristischem Entzücken aus. Das Café führt den hochmütig-bescheidenen Namen „Erdenglück“ (ebenso heißt auch eine Sparte gleich um die Ecke — ganz offenbar ein Kleingartengebiet!). Eine freundliche ältere Dame mit Steno-Block und ein unbeschreiblich blickender Stiesel mit Kamera marschieren am hellen Nachmittag in diese Wirtschaft ein. Der junge Mann beginnt sogleich zu knipsen. Das sieht so aus, daß er in grotesk verrenkten Posituren an Ecken oder mit (dem legendären DDR- Holzsurrogat) Sprelakart verkleideten Wänden herumhühnern muß: Sein Blitzlicht geht nur mit Kabel, und das Kabel ist elend kurz. Die Postille, für die die beiden arbeiten, heißt 'Preußenspiegel am Sonntag‘, kurz 'PAMS‘ genannt — an diesem Nachmittag sind die zwei strammen Profis gerade für eine Serie über „gemütliche Restaurants“ zugange. Die Autorin mit dem Stenoblock sagt mir, sie sei sehr froh, für 'PAMS‘ zu arbeiten. Sie ist über 50. Man hört leicht, daß sie froh ist, überhaupt arbeiten zu dürfen.

Junge Wilde im Schutzraum Provinz

Wer im Brandenburger Theater die Treppe zur Dramaturgie und zum KBB (Künstlerisches Betriebsbüro) einfach weiter hochgeht, findet eine offenstehende Tür, die den Blick auf Dachstuhl und bescheidene Oberbühnenapparaturen des Theaters freigibt. Einen regelrechten Schnürboden hat das Haus nicht — auch nichts, was einem solchen ähneln würde. Alles was auf dieser Bühne bewegt wird, muß „von Hand“ in Gang kommen. Der Fotograf entdeckt ein rundes Loch in der Decke, findet den Mann, der während der Vorstellung (Cabaret) durch eben dieses Loch den Verfolger-Scheinwerfer schicken wird — der Besucher darf zur Show unterm Dach Platz nehmen. Unten schwitzen währenddessen die Bühnenarbeiter: Jungregisseur Marten Sand, 27, hat verschiedene bühnentechnische Delikatessen durchgesetzt, die mächtig Handarbeit verursachen: Ein Podest mit Konzertflügel dreht sich; hinten würgen zwei Bühnenarbeiter Stück für Stück eine Mechanik herum, die über eine Art Treibriemen Musik und Musiker kreisen läßt. Ein leises Gefühl voh „Schmiere“ kommt in solchen Momenten auf — mit der ganzen Widersprüchlichkeit, die diesem Begriff eigen ist: Das Schöne, „Romantische“, rührend Altmodische des „Provinz“-Theaters — und die Traurigkeit darüber, daß wenig Geld in vielen Einzelfragen eben doch auch weniger Kunst bedeutet, bedeuten muß.

Zwei Produktionen, die wir sehen konnten, sind unter den Bedingungen eines DDR-Kleintheaters ermutigende, tröstliche kleine Wunder: Das schon erwähnte Cabaret in einer unverfroren auf aktuelle Ost-West- Wirklichkeit aufgebürsteten, hoch- spannenden Fassung — und Frank Matthus' realistisch-poetische Inszenierung von Mozarts Hochzeit des Figaro. Beide Produktionen nutzen die Kräfte des kleinen Hauses bis an den äußersten Rand; beide verlangen von technischem und künstlerischem Ensemble grausam viel, beide Regisseure seufzen gelegentlich über Schwerfälligkeiten des kleinen Hauses — und beide Rechnungen gehen glänzend auf. In Cabaret hat Marten Sand die alten und die neuen (zugleich jungen) Kräfte des Ensembles mit staunenswerter Souveränität seinem rigorosen Regiekonzept unterworfen. Das Ensemblespiel ist ausgezeichnet; und Sands Kumpan Frank Matthus (der auch für die nicht so geglückte Tonbandmusik zur Ergänzung der netten kleinen Kapelle gesorgt hat) ist als Conferencier der unumstrittene Star des Abends. Petra Kleinert allerdings (Sally Bowles) haben weder ihr Regisseur (und Lebensgefährte) noch Schauspielerkollegen jemals auf ihre erheblichen sprechtechnischen, spielerischen und gesanglichen Defizite hingewiesen. Theater-Alltag. Überall.

Wie der junge Regisseur mit dem älteren Darstellerpaar zurechtgekommen ist (Rollen: Pensionswirtin Schneider und Gemüsehändler Schulz), war vergnüglich anzusehen. Zwei nicht mehr junge Theaterpferde zeigen ihre Souveränität und spielen ohne jede Nachlässigkeit, ohne Arroganz gegenüber dem angeblich unbedeutenden Haus, schönes, inniges Theater. Überhaupt scheint das eine Qualität der notleidenden kleinen Ost-Theater zu sein: Alle keulen, was das Zeug hält. Die Jungen, die manchmal nur eine einzige Spielzeit bleiben, sich beweisen wollen und möglichst bald aufwärtsfliehen wollen — und die Ollen, die sich mit der Kleinstadt abgefunden haben, Lokalheroenstatus genießen und verläßliche Arbeit leisten.

Frank Matthus (27), der Conferencier in Marten Sands Cabaret- Produktion, hat für seine Inszenierung von Mozarts Figaro alle Rezitative von ihrer Musik befreit und läßt sie, in deutsch, einfach sprechen. Kaum zu glauben: Das Opernensemble redet ungekünstelt, zeigt dazu Spielerisches, nach dem man an manchem berühmten Opernhaus vergeblich suchen würde. Auch gesungen wird übrigens im häßlichen Teutonisch. „Kannste in Brandenburg nicht machen, Figaro im italienischen Original“, sagt Regisseur Matthus dazu lakonisch. Die Stärken dieser überaus genauen, schön originellen, aber nicht aufgeblasenen Inszenierung helfen dem Zuschauer leider nicht über alle Desaster des Brandenburger Theaterbetriebs hinweg: Zum einen hat das Haus eine Akustik, in der man Mozart nicht im mindesten hören kann. Aus dem provisorischen Orchestergraben scheint die Musik senkrecht hochzusteigen und einen Meter unter der Decke zu verrecken. Nur wer hinten sitzt, kann überhaupt die Sänger annähernd genau wahrnehmen. Zweitens mußten wir in allen Brandenburger Vorstellungen erleben, daß hinter der Bühne, im Foyer oder sonstwo massiv gelärmt, gerumpelt, gerufen oder sonstwie theatertötend agiert wurde. Bei der Himmelbett-Produktion ging die Schlamperei so weit, daß ein Lautsprechereinruf für ein anderes Stück (im großen Haus) für's gesamte Publikum glasklar und dröhnend übertragen wurde.

Gegen Ende von Matthus' Figaro- Inszenierung war dann einmal mehr eine Panne zu sehen, die in der Alltagsschlamperei großstädtischer Theater ebenso vorkommt: Der ganze letzte Akt säuft im Halb- bis Ganzdunkel ab. Kein Intendant, kein Bühnenbildner, kein Beleuchtungsmeister hat dem wenig erfahrenen Regisseur einen Weg gezeigt, die gewünschte Stimmung ohne visuelles Defizit zu arrangieren. Vielleicht wird in diesem bedauerlichen ästhetischen Blackout einer sonst begeisternden Inszenierung ein grundsätzliches Führungsproblem dieses Hauses offenbar: Intendant Ekkehardt Prophet spricht zwar gern von „Leistung“, glaubt aber zugleich, ein Theaterleiter müsse jungen Begabungen nur einfach Raum geben, Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Ein Intendant muß aber nun mal eingreifen, wenn ein Teil einer Produktion nicht bühnenreif ist.

Erst recht ein erfahrener Intendant wie Prophet, der vor seiner Brandenburger Zeit 51/2 Jahre in Rudolstadt/Thüringen und nach eigener Auskunft „glücklos fast vier Spielzeiten“ in Rostock amtierte; trotz derartiger kleiner Versäumnisse hat Prophet das Brandenburger Theater, dessen Schließung im Juli '90 bevorzustehen schien, „wieder nach vorn gebracht, mit Arbeit, viel Arbeit. Man muß nunmal erst den Nachweis erbringen, daß man notwendig ist, daß man bereit ist, Leistung zu erbringen, und daß man auch Leistung bringt. Erst dann kann man Forderungen stellen.“

Herzliche Leute, herzlose Bedingungen

Nach vier Tagen Brandenburg: verwirrende Mischgefühle aus Konfusion, Rührung, künstlerisch freudigen Überraschungen — und Ostblues, Ostblues, Ostblues. Herzliche Leute mit herzlosen Arbeitsbedingungen. Vergessen herumgammelnde Trabants in scheinbar evakuierten Vorstädten. Das gespenstisch vor sich hinragende Stahlwerk, in dem sinnlos einsame Dieselloks auf und ab schnuffen. Die „Nervenanstalt“ (wie ein Brandenburger sagte), die vermutlich prall gefüllte Psychiatrie also — und das sinistre „Café Erdenglück“. Das tiefsitzende und fürchterlich bedrückende Gefühl, eine Region besucht zu haben, die einfach vergessen worden ist. Und mitten in diesem ganzen Elend, dessen Ausmaß wir uns so wohl doch nicht vorgestellt hatten, mitten in der Trübnis eines aufgelösten und dann stehengebliebenen deutschen Spießerstaats: PR-Hektiker Christian Schumann mit seinen sehnlich erwarteten Rentnertransporten; Intendant Dr. Prophet mit seinem zeitgemäßen Glauben an „Arbeit, viel Arbeit“ und „Leistung“; Hans-Joachim Straub, der Sänger des Bartolo in Frank Matthus' Figaro-Inszenierung, der in der Kantine bereitwillig und voll kostümiert für den Fotografen posierte; das freundliche Personal der zurechtimprovisierten Kantine; Marten Sand, der dem Brandenburger Theater für seine Inszenierung von Anouilhs Die Wilde einen echten Bühnen-Swimmingpool abtrotzte — kurz: all diese unentwegten, trotzig-optimistischen, spiel- und sonstwie arbeitsgeilen Leute, die nicht lockerlassen und die zur Zeit — ungewohnte Gerechtigkeit — zumindest mit der zählebigen Hoffnung auf den Umbau des Theaters zu trösten sind. Bühnenmenschen, die die Notwendigkeit ihrer Arbeit bewiesen haben und allabendlich weiter dokumentieren. Das Brandenburger Theater lebt, auch ohne Schnürboden, ohne anständige Gagen, ohne nennenswertes Publikum, ohne klare Aussichten für die fernere Zukunft. Das kleine, grausig häßliche, einstweilen durchaus theateruntaugliche Haus brummt, vibriert und wimmelt. Schön.