Auf den Spuren der Tour de France

■ Pedro Delgado, Topfavorit der 47. Spanien-Rundfahrt, geriet in der ersten Woche leicht ins Hintertreffen/ Der gefürchtete Tourmalet soll ihn auf der heutigen Etappe nach vorne bringen

Berlin (taz) — Ein Aufschrei des Entsetzens ging im letzten November durch die spanische Radsportszene: Hatten die Organisatoren der Tour de France doch glatt die Pyrenäen aus ihrem Programm gestrichen, jene legendären Etappen über die sakrosankten Pässe L'Aubisque und Tourmalet, die seit Beginn dieses Jahrhunderts zur Tour gehören wie Speichen und Pedale. Nur die Regisseure der „Vuelta de Espana“, der Spanien-Rundfahrt, die 1992 ihre 47. Auflage erlebt, waren nicht ganz so bestürzt. Der Verzicht der Franzosen gab ihnen Gelegenheit, ihrerseits die Pyrenäen-Tortur dem Streckenverlauf einzuverleiben. So kommt es, daß in diesen Tagen die „Vuelta“ ganz gegen ihre Tradition die Grenze überschreitet, und die Fahrer heute eine der klassischen Tour-Etappen zu bewältigen haben: die gefürchtete Strecke über Tourmalet, Aspin und Peyresourde nach Luz Ardiden.

Ein gefundenes Fressen für den Tour-de-France-Sieger von 1988, Pedro Delgado. Der drahtige Mann aus Segovia liebt die Schwierigkeit und lebt erst richtig auf, wenn es steil nach oben geht, wenn die Wadenmuskeln zu platzen drohen und die Zunge auf dem Lenker hängt. Delgado beklagt seit längerem, daß die großen Rundfahrten immer leichter werden, und es ist kein Zufall, daß sein primäres Saisonziel in diesem Jahr die Vuelta ist, die er als erster Profi zum dritten Mal gewinnen möchte. Über 3.397 Kilometer geht es von Jerez nach Madrid, und nach einhelliger Meinung der Akteure ist die Spanienrundfahrt in diesem Jahr die schwierigste der großen Touren.

Obwohl Figuren wie Miguel Induráin, Gianni Bugno, Greg LeMond, die sich ganz auf Frankreich konzentrieren, oder Fignon, der beim Giro d'Italia glänzen will, fehlen, ist die Vuelta '92 gut besetzt. Vorjahressieger Melchor Mauri ist ebenso dabei wie Marco Giovannetti, der Gewinner von 1990, der Mexikaner Raul Alcalá, die Niederländer Erik Breukink, Steven Rooks, Gert-Jan Theunisse, der Ire Stephen Roche, der Kolumbianer Alvaro Mejía und jede Menge ehrgeizige Spanier.

Delgado hat ein miserables Jahr hinter sich, fuhr 1991 überall im zweiten Glied und mußte zudem die einst unumschränkte Führerschaft im Banesto-Team an den strahlenden Tour-Sieger Miguel Induráin abtreten. Tapfer bekundet er allenthalben, daß ihn dies sogar freue, da er so die Verantwortung nicht mehr allein tragen müsse, aber der wohl endgültige Verlust aller Chancen bei der Frankreich-Rundfahrt, die auch für ihn stets eine Obsession war, dürfte ihn schon mitten ins Radler-Mark treffen. Die Vuelta soll ihn darüber hinwegtrösten, und die ihm auf den Leib geschneiderte Streckenführung ließ ihn von vornherein als klaren Favoriten erscheinen. „Perico ist allen überlegen“, sagte Mauri vor dem Start, und Delgado selbst fühlte sich „in der vielleicht besten Verfassung, die ich überhaupt je erreicht habe“.

Die erste Woche verlief dann allerdings keineswegs nach Wunsch. War Banesto-Chef José Miguel Echávarri nach dem Mannschaftszeitfahren zu Beginn noch durchaus zufrieden mit der Homogenität seines Teams, kam es auf der vierten Etappe von Linares nach Albacete, eigentlich ein harmloses Flachstück, ziemlich dick für Delgado. Das ONCE-Team um Melchor Mauri versuchte ihn durch ständige Attacken abzuhängen und war schließlich erfolgreich. „Was kann ich schon vom Auto aus machen“, schimpfte Echávarri, nachdem sein Spitzenfahrer am Ende 29 Sekunden auf Mauri eingebüßt hatte. „Es sollte eigentlich nicht nötig sein, daß ich den Fahrern tausendmal die Gefahren einer solchen Etappe wiederhole.“ Delgado selber meinte, daß er sehr wohl bemerkt habe, was vor sich ging, und den Ausreißern gern folgen wollte. „Aber sie haben sich praktisch vor mir quergestellt. Ich konnte nicht ein Hinterrad finden.“

Während sich vorn die Sprinter Abdushaparow und van Poppel gegenseitig die Etappensiege streitig machten, stellten die Favoriten die Weichen für die Berge. Breukink machte, obwohl er am Sonntag das Zeitfahren der 7. Etappe gewann, schnell deutlich, daß er nicht mit allzu großen Ambitionen nach Spanien gekommen war, der Führende im Gesamtklassement, Peio Ruiz- Cabestany ließ keinen Zwefel daran, daß die Berge seinem Höhenflug ein abruptes Ende setzen würden, doch Melchor Mauri unterstrich, daß er durchaus fähig sein könnte, seinen Vorjahressieg zu wiederholen. Während sich Delgado auch im Zeitfahren nicht vorne plazieren konnte, kam Mauri auf den fünften Platz und lag vor den Pyrenäen nur fünf Sekunden hinter dem Spitzenreiter Jesus Montoya auf dem zweiten Rang des Gesamtklassements.

„Wenn Mauri jetzt nicht das Gelbe Trikot holt, holt er es in der ganzen Rundfahrt nicht“, hatte Echávarri vor dem Zeitfahren getönt, ONCE-Boß Manuel Saiz konterte jedoch trocken: „Das Gelbe Trikot bedeutet mir im Moment nichts. Wichtig ist es, im Angesicht der Berge gut plaziert zu sein.“ Das ist seinem Kapitän prächtig gelungen, auch wenn Echávarri die verlorenen Sekunden des Pedro Delgado vorläufig noch auf die leichte Schulter nimmt: „Die Vuelta entscheidet man nicht in Sekunden, sondern in Minuten.“ Matti Lieske

Gesamtwertung: 1. Montoya 28:27:17 Stunden; 2. Mauri 5 Sekunden zurück; 3. Bruyneel 53; 4. Alcalá 57; 5. Alex Zülle (Schweiz) 1:29

7. Etappe, Einzelzeitfahren (49,4 Kilometer): 1. Erik Breukink (Niederlande) 1:10:50 Stunden, 2. Jesus Montoya (Spanien) 9 Sekunden zurück, 3. Eric Vanderaerden (Belgien) 46; 4. Johan Bruyneel (Belgien) 51; 5. Melchor Mauri (Spanien) gleiche Zeit