Der Streik im Osten

■ Unterschiedliche Reaktionen auf den Streik im Westen

Dresden (taz) — Zwei Minuten lang standen gestern in Dresden Busse, Straßenbahnen und Müllautos still. Sachsens ÖTVzeigte sich solidarisch mit den WestkollegInnen und winkte gleich den eigenen Tarifpartnern mit dem Zaunpfahl. Für nächste Woche hat sie eine Serie von Kundgebungen angekündigt, auf der sie den Abschluß eines Sozialtarifvertrages und den Stopp des Arbeitsplatzabbaus einklagen will. Statt der befürchteten Streichung von einem Viertel der öffentlichen Stellen will die ÖTV Ansprüche auf Qualifizierung und Umschulung sowie auf finanzielle Abfindungen sanktioniert wissen.

Das Rentnerehepaar, das vor einer zehngeschossigen Wohnzeile in Dresden-Johannstadt seine Bettlaken in den Frühlingswind hängt, will zum ÖTV-Streik gar nichts sagen. Nur mißtrauische Blicke kreuzen die Wäscheleinen, bis die Frau das Schweigen auf den Punkt bringt. „Wir müssen selber sehen, wie wir langkommen.“ Am Blumenstand läßt sich Hannelore Schmidt einen Strauß gelber Tulpen binden. Von der Aktion der sächsischen ÖTV hat sie nichts mitbekommen, doch sie, arbeitslos seit einem Vierteljahr, findet es „ein bißchen unverfroren, daß die im Westen streiken, wo doch jetzt jede Mark für den Aufschwung im Osten gebraucht wird.“

Schulterzucken, ein unwirsches „Keine Ahnung“ oder „Ich habe selbst genug Sorgen“, das sind unmittelbar nach der Solidaritätsaktion der ÖTV die üblichen Reaktionen der DresdenerInnen auf Fragen nach dem Arbeitskampf jenseits der verschwundenen Mauer. Ein Mittvierziger aus Berlin erklärt Verständnis für alle Beteiligten. „Die einen haben recht und die anderen auch. Die einen kämpfen gegen ihren Reallohnverlust, und die anderen wissen nicht, wie sie das bezahlen sollen. Ich weiß doch auch nicht, wie man es beiden Seiten recht machen soll.“ Henry Matthes, „zur Zeit Kellner im Projekttheater“ und bald wieder mit dem „Omnibus für Direkte Demokratie“ über Land, meint dagegen: „Wenn ich sehe, was drüben mit Mieten und Preisen los ist — in dieser Situation kann die ÖTV nicht klein beigeben. Dieser Streik ist keineswegs nur eine launische Aktion. Aber als die öffentlichen Arbeitgeber das Schlichtungsangebot ablehnten, war das ein demonstrativer Akt.“ Detlef Krell