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Das Canberra-Syndrom

Oder: wie macht man eine Hauptstadt? Über den Bonner und den Berliner Beamtenapparat, den schwankenden Umzugstermin, die Bürgerbeteiligung und darüber, wer eigentlich zuständig ist  ■ VON EVA SCHWEITZER

Kommen sie nun, oder kommen sie nicht? Und wenn ja, wann und wohin kommen sie, die Bonner? Seit dem legendären Hauptstadtbeschluß vom 20.Juni letzten Jahres, als Berliner Politiker nächtens betrunken über den Bildschirm hüpften, während Bonner Taxifahrer verbittert die Fäuste ballten, wurden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Kommen nun all die 150.000 bis 250.000 nach Berlin, von denen immer die Rede war? Oder kommen nur ein paar tausend Mitarbeiter von vier, fünf wichtigen Ministerien? Kommen womöglich nur die Minister nebst ihren Abteilungsleitern, während das niedere Beamtenvolk in Bonn bleibt? Oder bildet sich kurz darauf die berühmte „Rutschbahn nach Berlin“, auf der alle nachrutschen, sitzen erst einmal Kanzler und Parlament an der Spree? Und kostet das alles neun Milliarden Mark (Berliner Zahlen) oder vielleicht doch 200 Milliarden Mark (Bonner Zahlen)?

Nicht nur die Berliner rätseln, auch die Bonner sind voll des Staunens über die Steilpaßvorlagen des Berliner Senats. Was plant der eigentlich? Und wo? Das ist doch im Osten! Und wer ist denn hier zuständig? Es ist nicht einfach für den armen Bonner Abgeordneten, sich hier durchzufinden, geschweige denn für den noch ärmeren Bonner Beamten. Und nicht nur die Berliner verdächtigen die Bonner, heimlich zu bremsen. Es gibt handfeste Anzeichen dafür, daß auch Berliner Sand ins Umzugsgetriebe streuen.

Fest steht nur: Die Stimmung ist nicht gut. Das Verhältnis zwischen Bonner und Berliner Funktionsträgern wird eher durch unterirdische Spannungen als vertrauensvolle Zusammenarbeit bestimmt. Kritik wird jedoch nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt. „Bitte zitieren Sie mich nicht“ ist ein Satz, der in solchen Gesprächen notorisch fällt. Dabei ist das Äußerste an Tadel, das einem der Polit-Kontrahenten in der Öffentlichkeit über die Lippen kommt, die Klage über die mangelnde Zuständigkeit der Gegenseite. „Wir haben jeden Tag andere Verhandlungspartner“, klagt es aus einem Ministerium („Bitte zitieren Sie mich nicht“). Mal bekomme man vom Bausenator ein Grundstück angeboten und erfahre am nächsten Tag aus der Zeitung, daß der Stadtentwicklungssenator es an Sony verkauft habe, dann biete dieser ein Grundstück an, und man müsse kurz darauf lesen, daß der Verkehrssenator dort einen Tunnel plane.

Bitte zitieren Sie mich nicht!

Berlin-Schöneberg, im Hinterzimmer einer Kiezkneipe. Die ortsansässige CDU hat zu einem nichtöffentlichen Parteitreffen gebeten, und versehentlich hat das Schöneberger Bezirksamt die taz eingeladen. „Bonn und Berlin“, zürnt der CDU-Bundestagsabgeordnete Joachim Feilcke, „verhandeln miteinander wie zwei ausländische Mächte.“ Er höre unter Kollegen immer wieder Klagen über die mangelnden Zuständigkeiten in Berlin, warum gebe es hier nicht einen Hauptstadtbeauftragten, der richtige Kompetenzen habe? „Ich fragte einen SPD-Kollegen aus Berlin, wer hier für die Hauptstadtplanung zuständig sei, der sagte, das sei Staatssekretär Branoner von der Umweltverwaltung“, klagt Feilcke weiter. „Dann fragte ich einen CDU- Kollegen, der sagte, zuständig sei Bundessenator Radunski.“ Dann entdeckt Feilcke die mitschreibende taz in der Ecke und bittet darum, nicht zitiert zu werden.

Feilcke selbst ist der Meinung, daß die Bonner kommen. Vor dem Bundestagsbeschluß sei es „fast Gotteslästerung“ gewesen, in Bonn öffentlich über Alternativen zur Hauptstadt am Rhein zu reden. „Aber heute leisten die keinen Widerstand mehr, sondern treiben nur noch die Preise hoch“, meint Feilcke.

Gute und böse Bonner

Szenenwechsel. Pressekonferenz im Berlin-Pavillon, Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) referiert über Bürgerbeteiligung bei der Hauptstadtplanung. Wer denn in Bonn der zuständige Ansprechpartner sei, fragt ein Kollege. „Das möchte ich auch gerne wissen“, platzt es aus dem bislang recht beherrschten Nagel heraus. „Das ist jeden Tag jemand anderes. Den einen Tag... “ Bevor er fortfahren kann, schiebt ihm sein Hauptstadtbeauftragter — auch Nagel hat einen Hauptstadtbeauftragten — eine lange Liste zu. „Also, zuständig für den Wohnungsbau ist das Bundesbauministerium“, fängt Nagel an zu lesen. „Zuständig für die übergeordnete Planung ist die Konzeptkommission des Bundestages. Zuständig für die Wettbewerbe...“ Ersparen wir uns die folgende Viertelstunde. Übrigens sind — selbstredend — die konkurrierenden Berliner Verwaltungen auch nicht gerade gut Freund miteinander. Wenn sich die sozialdemokratische Bauverwaltung als bürgerfreundlich profiliert, dann macht die schwarz-grüne Umweltverwaltung prompt auf entscheidungsfreudig und umgekehrt.

Spätestens hier muß man deutlich werden: Es gibt gute und böse Bonner. Die guten Bonner sind die Abgeordneten, jedenfalls die Abgeordneten, die sich auf Berliner Veranstaltungen tummeln. Diesen Abgeordneten steht das Kaff am Rhein bis zum Hals. Sie würden viel lieber in einer multikulturellen Metropole leben, mit Kneipen und Kulturangebot, wo sie mit aufgeschlossenen Großstadtbürgern politische Diskussionen führen können. Diese Abgeordneten kommen jetzt schon gerne zu den reichlich stattfindenden Diskussionen mit aufgeschlossenen Großstadtbürgern, lassen sich danach in die Kneipe schleppen, mit Pizza füttern und beklagen sich über den Bonner Beamtenapparat, von dessen gelegentlicher Überlistung sie nach dem vierten Wein zu erzählen wissen.

Die bösen Bonner rekrutieren sich aus dem Beamtenapparat. Leider bekommt man als Berlinerin niemals jemanden zu fassen, der dazu gehört, denn all jene, mit denen man spricht, äußern nur Gutes über Berlin. Hinter den Kulissen quälen sie jedoch den Berliner Beamtenapparat: Sie streuen Papiere in die Presselandschaft, in denen nachgewiesen wird, daß alles irrwitzig teuer wird und die Berliner Verwaltung unzuständig wäre, was sich die Berliner Politiker nicht trauen, zu dementieren. Ihre Ministerialräte reagieren pikiert, wenn sie mit Berliner Referenten verhandeln müssen, die nur BAT2a verdienen, sie selbst aber B9 — wieviel auch immer das sein mag. Sie lassen die Berliner während stundenlanger Besprechungen hungern und dürsten („Bitte zitiere mich nicht — hast du mal ein Brot?“). Sie bilden den Sicherheitsapparat, dem auch die Parlamentarier ausgeliefert sind, sie schirmen die Kabinettsmitglieder ab, die man gerade dringend braucht, und sie tragen Bedenken gegen alle Wohnungsbauprojekte und Verkehrstrassen vor, die der Senat plant.

Dafür rächt sich der Berliner Beamtenapparat, indem er etwa Rückübertragungsansprüche der Bundesregierung um die hundert Mal so langsam bearbeitet wie seine eigenen, oder indem er Bonner Beamte zu Terminen in den Osten bestellt, wo er sie dann versetzt mit der Begründung, man habe kein Telefon.

Kulturelle Hemmschwellen

Und dann gibt es noch den Bürger. Den Bonner Bürger wollen wir mal beiseite lassen, da der sich von Berlin aus gesehen als monolithischer, berlinfeindlicher, lediglich an seinem Arbeitsplatz interessierter und letztlich schwer zu beurteilender Block darstellt. Näher steht uns der Berliner Bürger. Der Berliner Bürger ist an der Planung der Hauptstadt zu beteiligen, so verlangt es das Baugesetzbuch, jedenfalls solange er den Abgeordneten und deren Bedürfnissen nicht allzusehr im Wege steht. Auch der Berliner Bürger wüßte gerne, wer eigentlich zuständig ist.

Mit den Bürgern haben die Bonner Beamten noch keinen Kontakt — zum Glück für die Berliner Beamten. Denn der Hauptfeind des im Bürgerbeteiligungsverfahren engagierten Berufsbürgers ist der Senat. Da auch der Hauptfeind der Bonner Beamten der Senat ist, gäbe es zahlreiche Möglichkeiten zur Kooperation, falls die Bonner ihre Hemmschwellen überwinden und sich mit der kulturell doch so ganz anderen „Irgendwie-Du“-Generation anfreunden könnten. Da aber die Berliner Berufsbetroffenen gewöhnt sind, immerfort Demokratie, aber nie Bau zu erleben, während es bei den Bonner Beamten umgekehrt ist, sind noch starke Gewöhnungsprozesse nötig.

Keine Provisorien

Vor diesem Hintergrund versteht der Leser sicher, daß die Zeitplanung vom letzten Juni obsolet geworden ist. Die besagte, daß der Bundestag bis 1995 in Berlin arbeitsfähig sein sollte, bis 1998 sollte die sogenannte volle Funktionsfähigkeit hergestellt werden. Aber die Parlamentarier betrachten sich erst dann als voll funktionsfähig, wenn jeder von ihnen für sich und seine Mitarbeiter stolze 72 Quadratmeter Büroraum zur Verfügung hat, beziehungsweise es 180.000 Büroquadratmeter für das gesamte Parlament gibt — weit mehr, als heute in Bonn stehen. Dort nennt jeder Abgeordnete nur 36 Büroquadratmeter sein eigen. Er wird aber bald in Bonn wesentlich mehr Platz haben, wenn das in Bau befindliche, 280 Millionen Mark teure, mit allen Schikanen ausgerüstete Bundestagsgebäude und das ebenfalls unfertige, 800 Millionen Mark teure, luxuriöse Bürogebäude für Abgeordnete beziehbar sein werden. Voll funktionsfähig ist also auch Bonn heute nicht.

Arbeitsfähig ist der Bundestag, so wurde es ursprünglich definiert, wenn es ein Gesamtraumangebot von 120.000 Büroquadratmetern in Berlin gibt. Aber der Begriff der Arbeitsfähigkeit wird jeden Tag deckungsgleicher mit dem der vollen Funktionsfähigkeit, so daß die Herstellung der Arbeitsfähigkeit nun auch schon bis 1998 dauern mag. So sieht es jedenfalls Franz Müntefering, Bauexperte der SPD und außerdem, wie eine Mitarbeiterin freundlicherweise mitteilt, stellvertretender Vorsitzender des Bezirks Westliches Westfalen, des größten Bezirks der SPD-Landesgruppe Nordrhein- Westfalen, ein Amt, das im Mai zur Wiederwahl anstünde.

Denn die Bonner wollen, wenn sie schon in die ungeliebte märkische Steppe ziehen müssen, wenigstens nicht in Provisorien hausen. Wobei der Begriff „kein Provisorium“ erheblich von dem abweicht, was sich der Durchschnittsdeutsche darunter vorstellt. Als provisorisch betrachtet man in Bonn wohl generell das Wohnen in Ost-Berlin. Die zuständige Kommission des Staatssekretärs Kroppenstedt sah jedenfalls lange Zeit nur Wohnstandorte im Westteil der Stadt vor. Manche Bonner sehen es offenbar auch als Provisorium an, wenn sie sich eine Wohnung auf dem freien Markt suchen müssen, statt daß sie ihnen vom Staat gestellt wird. Von dieser Linie weicht nur das Bundesbauministerium ab, das Bauprogramme für Bundesbedienstete ablehnt und auf ein Sonderwohngeld setzt, dies aber, vermuten Berliner („Bitte zitieren Sie mich nicht“), um den Umzug zu hintertreiben.

Auch bei der Büroausstattung sind Provisorien nicht gefragt. So berichtete der Bundestagsabgeordnete Gerd Wartenberg (SPD), daß allein wegen der Farbe der Stühle, die im derzeit im Bau befindlichen Bundestag zu Bonn stehen sollen, mehrere Sitzungen mit maßgeblichen Leuten, darunter der Bundestagspräsidentin, einberufen wurden, die sich stundenlang darüber stritten, ob das jeweilige Blau den richtigen Ton träfe. Bundestagsabgeordnete, denen das peinlich ist, stellen diese Problematik meist so dar: „Mir macht es ja nichts aus, mein Büro in einem Container auf dem Platz der Republik unterzubringen“, sagt der gewöhnliche Abgeordnete im persönlichen Gespräch, „aber den Kollegen kann ich das nicht zumuten, dann ziehen die ihre Zustimmung zu Berlin zurück. Bitte zitieren Sie mich nicht.“

Einen solchen Interruptio fürchten die Berliner nachhaltig. „Wir können“, erläutert ein Berliner Beamter, „die sofort unterbringen, wenn die nur wollten.“ In Berlin gebe es 700.000 Quadratmeter an leerstehender Bürofläche aus DDR- Restbeständen, instandgehalten, beheizt, teils sogar mit Telefon. Die Bonner — die neben ihrem Parlamentsflächenbedarf weitere 400.000 Quadratmeter Hauptnutzfläche in der Innenstadt verlangen — wollten jedoch nur in Neubauten ziehen. Dementsprechend verzögere sich der Umzugstermin. „Wenn die es schaffen, daß vor der nächsten Bundestagswahl 1995 kein Stein in Berlin bewegt wurde, in Bonn aber die teuren, neuen, luxuriösen Gebäude leer herumstehen, wird womöglich der nächste Bundestag den Umzug wieder stornieren“, meint er.

Einmalige Lachnummer

Damit vor 1995 wenigstens ein paar Schippen Zement bewegt werden, wird der Berliner Senat demnächst einen sogenannten Entwicklungsbereich ausweisen, quer durch die alte Stadtmitte, wo sich die Ministerien ansiedeln werden. Das wird der planenden Behörde alles mögliche erlauben, was im Kapitalimus sonst nicht üblich ist. So werden die Grundstückspreise auf dem Niveau vom November 1991 eingefroren, und die Behörde muß jedem Grundstücksverkauf zustimmen. Notfalls kann ein Grundstückskauf per Enteignung durchgesetzt werden. Das ärgert etwa die Baustadträtin von Mitte, Dorothee Durbau, deren Bezirksamt Grundstücke für Kindertagesstätten oder Schulen für teures Geld von der Treuhand kaufen muß und nicht von der planenden Behörde bevorzugt wird.

Und wer eigentlich ist die planende Behörde? Offiziell sind es die Bezirksämter, die aber werden per Hauptstadtvertrag demnächst auf kaltem Wege entmachtet. Fortan genehmigt der Senat alles selbst, womöglich bis hin zum Wohnbedarf der Bundestagsabgeordneten — ob die Formulierungen im Entwurf des Hauptstadtvertrages das abdecken, streiten sich die Experten. Aber auch der Bundestag oszilliert in die Genehmigungsverfahren hinein: Der kann nämlich als oberstes Gesetzgebungsorgan seinen Raumbedarf sowieso selber festlegen. Und als ob dies nicht reiche, hat das Bundesbauministerium gefordert, Bauvorhaben des Bundes müßten Vorrang vor anderen Interessen — etwa Einsprüchen von Bürgern oder Belangen des Umweltschutzes — haben, was entweder ins Bundesbaugesetz oder in den Hauptstadtvertrag aufgenommen werden müsse. Während der Berliner Bausenator protestierte, rührte sich in der hiesigen CDU keine Hand dagegen. „Wenn der Berliner Senat seiner eigenen Entmachtung zustimmte, wäre dies eine einmalige Lachnummer“, mokierte sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi.

Beispiel Canberra

In Bonn, versicherte unlängst der Bonner Baustadtrat Sigurd Trommer, gebe es solch ein Kompetenzgerangel nicht: Der Bundestag unterwerfe sich immer und überall der Planungshoheit der Stadt — kaum zu glauben. Das Bonner Stadtparlament, stellt sich auf Nachfrage heraus, besteht zum Gutteil aus Mitgliedern des Bonner Beamtenapparates, der ja dort wohnt. So minimiert man Probleme.

Bis sich die Verwaltungen in Bonn und Berlin ähnlich aneinander angepaßt haben, fließt noch viel Wasser die Spree hinunter. Ein Beispiel gibt der Ausbau der australischen Hauptstadt Canberra. Nachdem Anfang diesen Jahrhunderts beschlossen wurde, die australische Hauptstadt in die Retortenstadt zwischen Sidney und Melbourne zu verlagern, wurde 1911 ein Hauptstadtwettbewerb ausgerufen. 1920 stellte der Wettbewerbssieger W.B. Griffin sein Konzept vor. 1927 wurde das erste, provisorische Parlamentsgebäude eingeweiht. In den 50er und 60er Jahren zogen einige Ministerien nach Canberra. In den 79er und 80er Jahren folgten der Oberste Gerichtshof und die Nationalbibliothek, bis 1988 das endgültige Parlamentsgebäude fertiggestellt wurde. Derzeit denkt man über Erweiterungsbauten nach — fast hundert Jahre nach dem australischen Hauptstadtbeschluß.

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