»Ein Unternehmen intellektueller Damen«

■ Geselligkeit als schöne Kunst: Zwei Textsammlungen, eine bebilderte Familienbiographie und eine wissenschaftliche Studie erinnern an die Zeit der Berliner Salons

Ich empfand (...) eine neue Atmosphäre, die mich wie Poesie anwehte, und zwar durch das Gegenteil dessen, was gemeinhin so heißt, durch Wirklichkeit anstatt der Täuschung, durch Echtheit anstatt des Scheins.« So verzückt schilderte der Schriftsteller und Diplomat Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) die erste Begegnung mit Rahel Levin (1771-1833). Was ihn fasziniert, ist die Kunst seiner späteren Frau, ein geselliges Gespräch zu führen und dabei »auch dem gleichgültigsten (Gegenstand) einen Reiz des Lebens, einen Charakter von Wahrheit und Ursprünglichkeit« zu geben.

Geselligkeit als schöne Kunst? Glaubt man Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, dann ist Geselligkeit das »freie Spiel der Gedanken und Empfindungen«, die ungehindert entfaltete »Wechselwirkung« aller in einer Runde Versammelten. Dabei soll »keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden.«

Zweifellos klingt utopisch, was der Berliner Prediger in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 1799 entwirft; dahinter aber stehen konkrete Erfahrungen in den Berliner Salons, die um 1800 ihre erste Blüte erleben.

Zwei Textsammlungen, eine bebilderte Familienbiographie und eine großangelegte wissenschaftliche Studie erschließen jetzt die Epoche der schönen Kunst Geselligkeit. Fast alles dreht sich dabei um den Berliner Salon des 19. Jahrhunderts, jenes »Unternehmen intellektueller Damen«, das, so Petra Wilhelmy in ihrer Studie, »seinem sozialen Schwerpunkt nach eine Angelegenheit des Bildungsbürgertums war«. Für alle, die einfach nur lesend einen Spaziergang durch das Berlin der Henriette Herz (1764-1847) und der Rahel machen wollen, sind Sie saßen und tranken am Teetisch (herausgegeben von Rolf Strube) und Die gute Stube (herausgegeben von Ernst Heilborn) die idealen Stadtführer. Hier wird man Zeuge, wie sich das gelehrte und schöngeistige Berlin des vergangenen Jahrhunderts die Zeit vertreibt im leichten, geistreichen Gespräch und natürlich auch mit gepflegtem Klatsch. Dabei dreht sich alles um die Salondamen und ihr Ambiente. Wenn es auch objektive soziologische Gründe für das Entstehen der Salons gab: eine Geselligkeit steht und fällt immer mit der einzelnen Dame in ihrem Zentrum. Die Salondamen sind wichtig, und sie sind populär. Die berühmtesten — Frau Varnhagen von Ense, Frau von Arnim und die Gräfin von Schleinitz- Wolkenstein — kennt ganz Berlin als Rahel, Bettine und Mimi. Besonders die charismatische Rahel begeistert ihre Zeitgenossen. »Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen!« erinnert sich Varnhagen von Ense. »Man vermochte ihrer Munterkeit nicht zu widerstehen. Und was sagte sie alles! Ich fühlte mich wie im Wirbel herumgedreht, und konnte nicht mehr unterscheiden, was in ihren wunderbaren, unerwarteten Äußerungen Witz, Tiefsinn, Gutdenken, Genie oder Sonderbarkeit und Grille war. Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen oft in wenig Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren und das innerste Herz trafen.«

In ihrer »Dachstube« und später, seit den zwanziger Jahren, in ihrem zweiten Salon, empfängt Rahel tout Berlin: Gelehrte, Adlige, Dichter, Philosophen wie die Arnims, Brentano, Brinckmann, Chamisso, die Humboldts, Kleist, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, die Mendelssohn-Töchter, Jean Paul, die Schlegels, Schleiermacher, Tieck, Heine, Grillparzer, den Fürsten Pückler und viele andere mehr.

Rahel ist der eindeutige Star der Berliner Gesellschaft. Wie sie von Beginn an Goethe und seine Dichtung kultisch verehrt, so wird sie selbst zur Kultfigur — wenn man der Berliner Schauspielerin Karoline Bauer glauben mag, in späteren Jahren gar zum Denkmal ihrer selbst, zum Opfer des Ruhms: »Ja, oft hat die berühmte, vergötterte Rahel mir in der Seele leid getan, wenn sie blaß, müde, von gichtischen Schmerzen und Brustbeklemmungen gequält, auf ihrem Dreifuß am Teetisch dasaß und von allen Seiten betäubende Weihrauchdämpfe zu ihr aufstiegen und der Oberpriester Varnhagen der eifrigste und grausamste war, ihr immer neue Lorbeerblätter zum Kauen zwischen die Zähne zu schieben und alle Augen und Ohren auf ihren Orakelmund gerichtet waren... und die arme, kranke Rahel sich endlich doch wieder entschließen mußte: bon gré, mal gré die geistreiche, originelle, göttliche Pythia zu spielen!«

Gelehrte, Juden, Geheime Räte...

Generell ist das Salonklima freundlich. Man respektiert einander und die gesellschaftlichen Formen. Trotz aller verhandelten Liebesdinge und Affären bleibt der gute Ton, der sichere Takt immer die erste Voraussetzung des Beisammenseins. In einer ansonsten von ständischer Etikette reglementierten Welt des öffentlichen Verkehrs ist solche freie Geselligkeit natürlich anfangs eine Sensation. Unter dem Vorzeichen der Aufklärung und der Entdeckung einer deutschen Nationalliteratur trifft man aufeinander und versteht sich über Standesgrenzen: »Gelehrte, Juden, Geheime Räte, Edelleute, kurz alles, was sich an anderen Orten... die Hälse bricht, fället einander um diese, und lebt wenigstens freundlich an Thee- und Esstischen beisammen«, berichtet 1801 der Dichter Jean Paul aus Berlin.

Die euphorischen Anfänge verlieren sich jedoch im Laufe der Jahre. Zwar bleiben die Salons der offene gesellschaftliche Raum — Rahmen und Ausdruck einer heute vergessenen Konversationskultur: in dem Maße aber, in dem die »Jugendbewegung« selbst zur dauerhaften Institution wird, wird sie traditionalistisch. Nostalgisch sehnt man sich nach den goldenen Anfängen der Berliner Geselligkeit zurück. Außerdem werden alle älter: Manche Salondamen prägen das gesellschaftliche Leben Berlins über Jahrzehnte, so Hedwig von Olfers, die achtzig Jahre lang Gesellschaften besucht und gibt.

... Radikale und Anarchisten

Aber auch neue Salons entstehen, häufig in verwandtschaftlicher Beziehung zu anderen. Oft »erben« Töchter die Kreise ihrer Mütter oder gründen überschneidende Zirkel. Daß ein Generationswechsel zuweilen auch mit einem politischen Kurswandel einhergehen kann, zeigt der Fall der Bettine von Arnim. Bei ihr verkehren Radikale und Anarchisten wie Bakunin; aber auch Prinzen, Fürsten und konservative Gelehrte suchen das Gespräch im Kreise der exzentrischen Gastgeberin. Bettine liebt es, »die verschiedensten, oft schroff einander gegenüberstehenden Elemente um sich zu versammeln«, und sie genießt politische Debatten um so mehr, »je schärfer die Geister aufeinander platzen.«

Erst während der 1848er-Revolution kommt es zum Bruch: Bettine hält zu den Revolutionären, ihre Töchter unterstützen die Restauration, so daß sich der Salon in einen demokratischen und einen monarchistischen Flügel spaltet.

In den zwanziger bis vierziger Jahren spielen Salons auch für die Berliner Musikkultur eine bedeutente Rolle wie Eckart Kleßmanns Studie anschaulich zeigt. Eine erste Adresse des Berliner musikalischen Lebens wird ab 1825 das Haus der Familie Mendelssohn-Bartholdy. Hier veranstalten Lea Mendelssohn- Bartholdy und ihre Tochter, die systematisch verkannte Komponistin Fanny Hensel regelmäßige gutbesuchte »Sonntagsmusiken«. Bei den Mendelssohns treffen sich Musiker und Komponisten wie Carl Maria von Weber, Paganini, Gounod, Meyerbeer, Liszt, Clara Schumann, Spontini und Zelter. Nur noch die Musik scheint im alten Sinne vereinen zu können. Stilvoll kommt man bei Mendelssohns zusammen und sehnt sich schon in den vierziger Jahren zu den Anfängen der Berliner Geselligkeit.

Ende in Nostalgie

Das Ende der Monarchie 1918 bedeutet weitgehend das Ende auch der Berliner Salons. In der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts nutzt man andere Formen des geselligen Verkehrs, geht in Vereine und Clubs, in amerikanische Shows und den Kinematographen. Vor dem Hintergrund einer unübersichtlicher werdenden Zeit verändert sich auch die Rolle der Salons. »Sie wirken nicht mehr (revolutionär) integrativ, sondern (restaurativ) exklusiv. Aus einer primär eigengesetzlichen, avantgardistischen Gesellschafts- und Kulturfunktion wurde eine sekundäre, in gewisser Weise anachronistische, vergangenheitsliebende und gegenwartsflüchtige Einrichtung.« (Wilhelmy)

Wie jede Nostalgie ist auch die nach den geselligen Zeiten der Henriette Herz und Rahel Varnhagen ein müßiges Schwelgen. Petra Wilhelmys historische Studie erschließt ihr Thema — ohne nostalgisch zu werden — mit viel Elan aus wissenschaftlicher Perspektive. Auf über tausend Seiten, von denen mehr als die Hälfte auf den Anhang (mit ausführlichen Listen zu den mehr als achtzig Salons und ihren Gästen) fallen, untersucht sie die gesamte Geschichte des Salons: die Entstehungsbedingungen um 1780, die einzelnen »Epochen« der Berliner Salonkultur in Romantik, Jahrhundertmitte, Bismarck- Zeit und Jahrhundertwende, die Gründe für das Aussterben 1914. In einem gesonderten Kapitel zur »Struktur der Berliner Salons« faßt sie ihre Beobachtungen gezielt zusammen und untersucht übergreifend Alter, soziale Zusammensetzung, soziale Mobilität und das Selbstverständnis der Salondamen. Nebenbei skizziert sie eine Topographie der Salons mit vollständiger Adressenliste. So kann man verfolgen, wie sich im Zuge der Westausweitung Berlins auch die Berliner Geselligkeit ausdehnt — von ihren Ursprüngen im heutigen Bezirk Mitte zu den neueren Stadtteilen. Wer gründliche und kluge Wissenschaft mag, läßt sich Wilhelmys Studie von freundlichen Freunden schenken oder empfiehlt sie seiner Stadtbücherei zum Ankauf.

Dagegen sind die schönen Sammlungen von Ernst Heilborn und Rolf Strube erschwinglicher Luxus. Trotz der gepflegten Patina der »Guten Stube« — Heilborns Buch ist zuerst 1922 erschienen und jetzt glücklicherweise neu aufgelegt — sind beides erfrischende Bücher, übrigens mit schönen Abbildungen. Wenn sie auch zuweilen ihr Sujet ein wenig verklären: sie erzählen von einer freundlichen Kultur des Herzens, an deren Fehlen man sich viel zu gut gewöhnt hat. Hans-Joachim Neubauer

Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 73) Berlin, New York: Walter de Gruyter, IX/1030 S., Leinen, 298 DM.

Sie saßen und tranken am Teetisch. Anfänge und Blütezeit der Berliner Salons 1789-1871 , herausgegeben von Rolf Strube, München, Zürich: Piper-Verlag, 396 S., 10 Abb., 19,80 DM.

Die gute Stube. Berliner Geselligkeit im 19. Jahrhundert , hrsg. und eingeleitet von Ernst Heilborn, Berlin: Edition Sirene mit 17 Abb., 240 S., Bleisatz, Buchdruck, englische Broschur, 36 DM.

Eckart Kleßmann: Die Mendelssohns. Bilder einer deutschen Familie. München: Artemis und Winkler, 192 S., Großformat, zahlr. Abb., 98 DM.