GASTKOMMENTAR
: Mit Tränen in den Augen

■ Karlshorst: Symbol der Versöhnung, nicht des Hasses

Jedes Jahr feiern meine russischen, ukrainischen und anderen Landsleute, besonders Vertreter der älteren Generationen, den 9. Mai als »Tag des Sieges«. Er hat sich tief in das Bewußtsein des Volkes als ein »Feiertag mit tränengefüllten Augen« eingeprägt. Vier Jahre ihrer Geschichte, die insgesamt 74 Jahre gedauert hat, kämpfte die ehemalige Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland. Im Unterschied zu den geschichtsfälschenden Behauptungen des englischen Historikers David Irving, seitens der Nazis sollte es im Krieg keinen »Auschwitzterror«, keine Greueltaten gegeben haben, bezweifelt keiner von seinen ernstzunehmenden Berufskollegen jene Tatsache, daß die Hauptschuldigen an der Entfesselung der beiden furchtbarsten und greuelhaftesten Weltkriege deutsche Militaristen und Faschisten waren. Nun planen die Rechtsradikalen eine Kundgebung vor dem Kapitulationsmuseum in Karlshorst am 9. Mai, die ihrer Bewegung eine »Wiedergeburt« geben solle. Was hat aber diese »Wiedergeburt« zu bedeuten, und was kann sie mit sich bringen.

Wäre Deutschland nicht durch seine rechtsradikalen, nationalistischen Kräfte zum Herd des Ersten Weltkriegs geworden, hätten Lenin und seine Komplizen Rußland niemals in ein blutiges Versuchsfeld der Weltrevolution verwandeln können. Und wenn es in Deutschland im Jahr 1933 nicht zum nationalsozialistischen Experiment gekommen wäre, wäre der Gang der Geschichte ein anderer, nicht so tragischer geworden. Wenn sich am Ort, wo die Nazis vor 47 Jahren die bedingungslose Kapitulation unterschreiben mußten, ihre Nachfolger erneut von der »Wiedererstehung« sprechen, ist das eine gefährliche Tendenz. Denn diejenigen, die aus der düsteren Vergangenheit nichts zu lernen vermögen, schaden vor allem sich selbst und nicht zuletzt auch dem Volk, zu dessen wahren und gerechten Vertretern sie sich wahrscheinlich zählen.

Meine Eltern stammen ab von russischen Bauern und dörflicher Intelligenz. Mütterlicherseits gab es sieben, väterlicherseits fünf Geschwister. Von diesen sind vier an der Front gefallen, mein Vater trug als Frontsoldat eine schwere Kriegsverletzung davon, an deren Folgen er viele Jahre litt und anschließend gestorben ist. Drei Onkel von mir wurden stalinistischen Repressalien ausgesetzt, einer von ihnen hat volle zehn Jahre hinter Gittern und Stacheldraht verbracht. Solche und ähnliche Schicksale sind bezeichnend für viele Familien in meinem Land.

Nun hat die ehemalige Sowjetunion die unerträgliche Bürde des staatlichen Radikalismus endlich abgeworfen. Deutschland, wenigstens seinem größten Teil, ist es geglückt, den Weg der Demokratie bereits vor 47 Jahren zu beschreiten. Seine Erfolge auf diesem Weg einschließlich der Errichtung sozialer Marktwirtschaft dienen als gutes Beispiel für viele andere Völker.

Im wiedervereinten Deutschland, in dem jetzt neu entstehenden Europa gibt es viele Aufgaben: besonders die Einbeziehung der osteuropäischen Länder in den weltweiten gesamteuropäischen Prozeß des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritts, des Umweltschutzes und der Verhütung neuer Kriegsgefahren. Deswegen ist es einfach nicht zu begreifen, warum es gerade in der Bundesrepublik dem geschichtlichen Trend zum Trotz immer noch so viele Menschen gibt, die sich durch neonazistische Ideen leiten lassen.

Deswegen sollte das Kapitulationsmuseum in Karlshorst gerade jetzt zu einem Symbol der Bewältigung jener Vergangenheit werden, die den Völkern — auch dem deutschen Volk — soviel Leid bereitet hat. Es sollte ein Ort der Versöhnung zwischen Rußland und Deutschland werden, die beide einmal, zwar für verschiedene Perioden und in verschiedenem Maße, Opfer der radikalen Ausschweifungen aus der »normalen Spur« der Weltgeschichte waren.

Eines aber erfüllt mein Herz mit Genugtuung am Vorabend des diesjährigen »Feiertages mit tränengefüllten Augen«: Es wird voraussichtlich eine Gegendemonstration geben, zu der über 50 Organisationen der Berliner schon aufgerufen haben. Wladimir Tschernyschew

Direktor des russischen Kulturzentrums/Berlin