Der Dreck ist die Sage, die Haltung vagant

■ Helmut Kraussers „Fette Welt“: ein poetischer Aufstand

Am 8.März ließ das Münchener Wohnungsamt einen Obdachlosenbunker schließen. 30 empörte Berber marschierten daraufhin zum Rathaus — und „erlebten einen gesprächigen Georg Kronawitter“. Der Oberbürgermeister, bekannt in jüngster Zeit als Meinungsmacher in der Asylantendebatte, ordnete umgehend die Öffnung der Schlafstatt an. Nach dem Protesterfolg konstatierte einer der Penner: „Der OB ist ein Freund von uns.“

Am 11. März erhielt der Schauspieler Helmut Fischer einen Sigi- Sommer-Literaturpreis. (Sigi Sommer alias Blasius der Spaziergänger, die lebende Legende des verbissenen Humors, hatte als flanierender Kolumnist schon mal den Einsatz von Pestiziden gegen Straßenrandexistenzen erwogen. Doch zurück zur Auszeichnung:) Der Schauspieler bekam sie nicht als Literat, sondern fürs gesprochene Wort. Als „Monaco Franze“ war er am Ende der umjubelten Fernsehserie bekanntlich auf der Rolle. Bei seinem jüngsten Fernsehfilmauftritt „Unschuldsengel“ diktierte ihm das Drehbuch endgültig ein Schwabinger Schicksal: Der begabte Tippelbruder schreibt seine Autobiographie. Es wird ein Bestseller. Unter den Brücken aber pfeift der Wind, der Geist Blasius' aus der weiß- blauen Welt.

Ende Februar ist ein neues Buch des 28 Jahre alten Helmut Krausser erschienen, ein München-Roman. Held des Romans ist ein Held der Straße, ein junger Aussteiger und mit Ende 20 schon ein alter Hase unter den Pennern. Sein sprechender Name ist Hagen Trinker, seine Rede ein Gemisch aus Hohn und Spott, eine gallige Replik auf die blitzblanke, fette Welt. Er sagt: „Ich bin ein Poet.“ Wenn es sein muß, dann brüllt er es heraus wie die Proklamation vom poetischen Act.

„Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der (sic!), daß man ein Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. / Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen.“ — So proklamierte es H.C.Artmann im Jahr 1953.

Mit dem österreichischen Dichter teilt der junge Krausser wenig mehr als die vagantische Haltung, die eines Poeten auf dem Weg von Burg zu Burg. Kraussers Prosa ist die dauernde Erfüllung des Wunsches. Er schreibt seinem Helden Hagen Trinker den Lebenslauf im Präsens, seine Prosa der Gegenwart inszeniert er als Wettlauf gegen die Vergangenheit.

Seit Jahren hat dieser Hagen Trinker keine Zeile mehr geschrieben. Er ist ein Poet auf der Platte. Für seine Großstadtsymphonie hat er die „entscheidende Musik“ im Ohr. „Dritter Akt Tristan. Oder (...) Mussorgskis Ur-Boris, Harnoncourts Poppea.“ Irgend etwas, um dem Lärmpegel aus HipHop, Rap und Bayern3 eins beizumischen.

Hagen Trinker spielt sein Leben vom Blatt. Die Komparserie ist seine „Familie“, ein Haufen Berber von der „Münchener Freiheit“. In knappen Skizzen präsentieren sich die schäbigen Gestalten — und zwar weit entfernt von der philanthropischen Milieustudie über den freien Fall durch die Maschen des sozialen Netzes. Kraussers Sprache arbeitet hier ohne doppelten Boden, derb und vulgär. Der Dreck ist seine Sage, die Melodie zuweilen ein Gassenhauer. Die Berberfamilie nistet und zwitschert ganz unten. In dumpfen Köpfen erwacht die rechte Bürgerseele. Auch aus dem Absinth dröhnt der Ruf nach der Todesstrafe.

Zu den stärksten Stellen des 300-Seiten-Romans gehören acht eingestreute glasklare Miniaturen. Erzählt wird in der dritten Person. Der Held heißt schlicht: „Der Junge“. Es ist ein Kinderleben unter deutschen Dächern, ein Alptraum von der Familienbande VaterMutterKind. Die Helden des Jungen heißen Robin Hood, Hamsun, Celine. Wenn er gegen Ende des Buches seinen achtzehnten Geburtstag zum Befreiungsfest macht, dann ist er glücklich dort angelangt, wo der Roman von Hagen Trinker beginnt: Beim Bruch mit der bürgerlichen Welt.

Aber es geht längst nicht mehr um einen Fänger im Roggen oder um die sterile Künstlerexistenz. Der Held ist ein Hai der Großstadt, ein Jäger der verlorenen Liebe. Judith heißt seine Herzdame. Als die 16jährige Ausreißerin von der Bahnpolizei aufgegriffen und im Flugzeug zurück zu den Eltern geschickt wird, da mutiert der Poet zum Asphaltritter.

Er unterzieht sich der Prüfung, ordentlich Geld zu verdienen, und jobbt in der abgrundtief schwarzen Welt eines Bestattungsunternehmens. Die Reisespesen in der Tasche, macht er sich nach Berlin auf: zur erfolgreichen Belagerung im Jungmädchenzimmer, zur Flucht in die Pubertät.

Bis zum Finale einer elenden Berliner Odysee ist Fette Welt ein Roman zum Verschlingen, ein Buch, das in einer mitreißenden Sprache nie ein Klischee bedient. Zum Schluß aber bleibt der Wunsch nach der poetischen Handlung unerfüllt, und der poetische Akt als Aufstand gegen die fette Welt auf der Strecke. Der Dreck ist eben die Sage.

Michael Langer

Helmut Krausser: Fette Welt . Roman. 328 Seiten. List Verlag, München 1992. Geb., 39,80 DM.