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Hinkende Ordnung

Suhrkamps Proustiana: ein Bildband, ein Lexikon  ■ Von Ina Hartwig

Im Mai seines Todesjahres, 1922, trifft der 50jährige Proust den 40jährigen Joyce zu einem mondänen nächtlichen Abendessen, bei dem auch Strawinsky und Picasso anwesend sind. Als der Franzose den Iren, dessen Ulysses im selben Jahr erscheint, im Taxi nach Hause begleitet, soll er über irgendeine adelige Dame stolz zum Besten gegeben haben: „Sie war meine erste Hoheit!“ Daß Joyce das rasend machte, ist bei seiner Neigung zum Schnodderigen nicht weiter verwunderlich. Aber wie viele andere nahm er sein Urteil über Proust später zurück — und bedauerte, ihn nicht noch einmal getroffen zu haben.

Obwohl Proust den Blick schmachtend zurückwendet ins letzte Jahrhundert, ist der melancholische Exzentriker kein staubig antiquierter Träumer, sondern einer der zynischsten Desillusionisten der Epoche. Das zu bemerken, war wahrscheinlich gar nicht so leicht. Denn Marcel Proust ist ein temporäres Zwischenwesen. Nicht, daß er sich den aktuellen technischen Erfindungen verschlossen hätte (im Gegenteil, er hat Telefon, Automobil und Flugzeug sofort erotische Qualitäten zuerkannt), aber die soziale Matrix, auf der er seine Figuren agieren läßt, ist tatsächlich die des 19.Jahrhunderts, sie ist Balzacs schwülem Pandämonium näher als Bretons surrealistischem (heterosexuellem) Schattenkabinett, dem Feudalismus näher als der bürgerlichen Demokratie. In der Presse wurde Prousts Literatur einmal für „mausetot“ erklärt, was soviel hieß wie: völlig unmodern.

Zu der verspäteten Anerkennung hat sicherlich auch die Tatsache beigetragen, daß sein Lebensroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu), an dem er bis zu seinem Tod arbeitete, zu seinen Lebzeiten gar nicht vollständig publiziert vorlag; drei Bände erschienen posthum, der letzte 1927. Zwar war Proust als Schriftsteller etabliert, seit er 1919 den Prix Goncourt erhalten hatte. Aber die Leser der ersten Bände konnten den gesellschaftlichen Verfall nicht ahnen, den Proust gegen Ende seines Romans schildern würde. Den seltsamen Kontrast zwischen seiner visuellen Welt und der schamlos leidenden, analytischen Seelentechnik, mit der er seine erzählerische Wahrnehmung ausstattet, hat man daher erst weit nach seinem Tod als klassische, eben Proustsche Spezialität erkennen können.

Heute ist der asthmakranke Snob aus dem französischen Imaginären so wenig wegzudenken wie Goethe aus dem deutschen. Niemand bestreitet mehr, daß Prousts zerstörerischer Witz einen schärferen ästhetischen Blick beweist als die selbstverliebte Schonungslosigkeit des Dada. Nur so kann man es sich erklären, daß, seit 1986/87 das Copyright für Proust ausgelaufen ist, sich gleich drei Verlage daran gemacht haben, neue Ausgaben der Recherche herauszugeben (Gallimard, Garnier- Flammarion, Laffont). Aber auch in Deutschland glaubt zumindest ein Verlag an den Klassiker-Wert von Monsieur Marcel. Der Suhrkamp Verlag plant eine auf sechzehn Bände angelegte „Frankfurter Ausgabe“ der Werke Prousts unter Leitung des Züricher Romanisten Luzius Keller, in deren Rahmen eine Neuübersetzung der Recherche vorgesehen ist.

Im Zusammenhang mit dem ersten Band dieser Ausgabe — Freuden und Tage, Prousts erstes Buch von 1896 — veröffentlicht der Verlag ebenfalls einen Bildband: optisches Unterfutter zum editorischen Großunternehmen. Von der Präsentation her reiht sich der Band umstandslos in die altbekannte Tradition ein, die Prousts erster (wegen unerbittlicher Ausführlichkeit immer noch unüberbotener) Biograph, der Engländer George Painter, stark gemacht hat. Painters Biographie, 1962 (Band 1) und 65 (Band 2) ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, ist immer noch die einzige ausführliche ins Deutsche übersetzte Proust-Biographie. Leider. Denn auf diese Weise bleibt den — teilweise absurden — Menschenkompositionen unwidersprochen, die Painter uns auf der Suche nach den lebenden Vorbildern von Prousts Romanfiguren offeriert.

Auch diesen Bildband hat Suhrkamp im englischen Sprachraum eingekauft. Er trägt den streng Painterschen Titel Prousts Figuren und ihre Vorbilder und setzt damit dessen Proust-Rezeption fort. Das ist schade, denn unter diesem (mindestens) irreführenden Titel präsentiert William Howard Adams sensationelles Bildmaterial, dem eine strengere Darbietung gut bekommen wäre. Abgebildet sind etwa 55 Fotografien von Paul Nadar, in dessen Atelier sich der Pariser Adel und die wohlhabende Bourgeoisie — wie die Familie Proust — seit 1880 portraitieren ließen. Etliche von Prousts Bekannten und Freunden sind vor Nadars Kamera getreten, die Herren meistens etwas steif und fröstelnd, die Damen üppig drapiert mit langen Ketten sowie geknoteten Stoffen, und mit einem Blick, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan als mit Linsen geflirtet.

Adams gibt sich in seinem Vorwort und den Begleittexten zu den einzelnen Fotografien zwar Mühe, Painters Ideologie der literarischen Vorbilder zu differenzieren. Er spricht von der desillusionierenden Rolle der Fotografie in Prousts Roman, zitiert fairerweise Prousts Position zur Frage der Vorbilder („Es gibt keinen Schlüssel zu den Figuren in meinem Roman“) und räumt die angebliche Enttäuschung ein, wenn man die Fotografien vor dem Hintergrund des Romantextes betrachte. Zuletzt aber macht er doch den „vorsichtigen Versuch einer Zuordnung“.

Kaum erstaunlich ist, daß Adams auf die wunderbare Fotografie von Prousts Bruder Robert nicht verzichten mag, der über der riesigen Halsschleife seine großen Augen in sich hinein richtet. Allein, in der Recherche kommt ein Brüderlein nicht vor. Dagegen sollen der Madame Verdurin des Romans gleich zwei Frauen als Vorbild gedient haben: Madame Lemaire und Madame Aubernon. Die „wirkliche“ Gräfin Greffhule wiederum soll in zwei fiktive Gestalten eingegangen sein: in die Herzogin und in die Prinzessin von Guermantes. Dann soll die Herzogin aber noch auf ein anderes Vorbild zurückgehen: auf die Gräfin de Chevigné. Unter den Namen der fotografierten Personen stehen jeweils die entsprechenden fiktiven Gegenstücke — oder auch nicht, wie im Fall Robert Proust. Daß die Ordnung hinkt, nach der Adams die Portraitaufnahmen vorführt, ist vielleicht die Konzession an ein (unterstelltes) Verlangen des Verlags oder des Lesers, künstlerische Produktion zu visualisieren.

Was man stattdessen zu sehen bekommt, ist eine kleine Geschichte der körperlichen Revolution. Bräunlich eingefärbt, auf steifem, glänzendem, leicht gelblichem Papier in ausgezeichneter Qualität gedruckt, haben die Fotografien bestechende Tiefen und Schärfen. Die reiche Leute, die Nadar fotografiert, vermitteln das Gefühl, ihnen sei körperlich unbequem. Sicher liegt das auch an den für heutige Begriffe absurden Accessoires und ornamentalen Hintergründen, mit und vor denen vor allem die Frauen posieren. Andererseits wird im Vergleich aber auch klar, wie entschieden sich um die Jahrhundertwende das vor allem weibliche Körperbild geändert hat. Wir sehen Prousts Freundin Madame Straus auf ihren Schirm gestützt, als stemme sie sich innerlich gegen den fett drapierten Hintern, ihr Lächeln ist in eine scheinbar unbestimmte (aber auf die Kamera bezogene) Richtung gewendet, das Kleid bis oben zugeknöpft, mit Pünktchen, Rüschen und großen Knöpfen verziert; auf dem Haupt ragt eine enorme Schleife: der weibliche Mensch als Püppchen. Etwa zwanzig Jahre später als die Fotografie von Madame Straus, zwischen 1900 und 1910, dürfte die Aufnahme einer (verheirateten) Dame aus dem lesbischen Literaturkreis um Natalie Clifford Barney entstanden sein: Lucie Delarue-Mardus ist die einzige Frau in dem Buch, die eine Zigarette in der Hand hält; sie posiert nicht, sondern sitzt. Unter ihrer zu einem Wulst um den Kopf gedrehten dunklen Haarmatte schaut sie aus halb im Schatten liegenden Augen direkt in die Kamera; ihre mit Straß und Pelz besetzte Jacke schlottert um den Körper. Der Schnitt zwischen den Jahrhunderten ist deutlich. Und denkt man daran, daß Proust der unter Homosexualitätsverdacht stehenden Albertine seines Romans ein Fahrrad an die Hand gibt und eine Polomütze aufsetzt, während die Herzogin von Guermantes in elegant umständlichen Abendkleidern steckt, dann ist evident, wie sehr Proust sich für den Charme gerade dieses Gegensatzes interessiert hat. Insofern ist Adams recht zu geben: Nadars Atelierfotografie gehört zu dem physiognomischen „Rohmaterial“ von Prousts Phantasie.

Eine weitere, aber ganz andere Begleitung zu der aufwendigen, im Laufe der nächsten Jahre erscheinenden Proust-Werk-Ausgabe, bietet das Marcel Proust Lexikon von Philippe Michel-Thiriet, das gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist: in Lila, wie die Bändchen der Werk-Ausgabe. Ursprünglich stellt das Lexikon den ersten Band der Ausgabe der Recherche im Verlag Laffont dar. Es handelt sich um eine Ansammlung handfester Informationen über Prousts Leben, über sein Werk, seine Zeit, den Proust-Betrieb sowie über gestrige und heutige Publikationen zu Proust.

Gerade dem deutschsprachigen Proustianer kann dieses Lexikon von Nutzen sein: Endlich gibt es eine kommentierte Liste der Hunderten von Personen und Orte der Recherche — für den französischen Leser längst eine Selbstverständlichkeit. Denn bereits der ersten Pléiade-Ausgabe der Recherche von 1954 bei Gallimard ist ein solches, mit dem des Lexikons allerdings nicht identisches Verzeichnis beigefügt. Und das ist auch notwendig. Schließlich weiß, wer einmal Proust gelesen hat, wie schnell man sich verzettelt mit den ganzen Morels, Jupiens, Léas, Esthers, mit den Herzoginnen, Prinzessinnen und den diversen Besuchern von Salons.

Ein seltsames Genre ist es schon, so ein Schriftsteller-Lexikon, aber unbestreitbar bietet es einen guten Service. An eine einheitliche Adresse allerdings richtet sich das Buch nicht. Wenn einerseits die Telefonnummern einiger französischer Proust-Spezialisten angegeben sind (in mindestens einem Fall stimmt die Nummer schon nicht mehr), andererseits die „wesentlichen Themen des Proustschen Werks“ (wie Liebe, Krankheit, Tod, Erinnerung u.a.) mit derart theoretischen Allgemeinplätzen abgehandelt werden, daß nichts spezifisch Proustsches mehr erkennbar ist — dann sind deutlich unterschiedliche Interessen angesprochen. Das Problem ähnelt dem kritischer Editionen: für den Spezialisten sind die Anmerkungen nicht genau genug, für den Romanleser zu speziell.

Eingeteilt ist das Buch in traditionelle Abschnitte: Person, Werk, Rezeption, Chronik — Abschnitte von unterschiedlicher Qualität. Präzise und gründlich sind die erwähnten Verzeichnisse der Bekanntschaften Prousts, der Personen und Orte der Recherche. Eine ausführliche Liste der Lebensdaten ersetzt zwar nicht die existierenden Biographien, aber zumindest hat sie den Vorteil, keine zweifelhafte Nachdichtung zu sein (wie die meisten Biographien). Ebenfalls nützlich sind die Pläne von Prousts Wohnungen, die Stammbäume der zwei Familien und die zwei chronologischen Tabellen, die einmal den kulturgeschichtlichen, einmal den politisch-technischen Hintergrund betreffen. Diesen Tabellen entnimmt man zum Beispiel, daß 1914, als Proust 43 Jahre alt war, Chaplins erster Film (His New Job) lief. Das ist insofern interessant, als der Film die einzige technische Neuerung zu sein scheint, die Proust nicht in sein Werk einbezieht. (Wahrscheinlich war er überhaupt nie im Kino.). Natürlich hat eine solche Zusammenstellung von Daten, in deren Netz wir das Schriftstellerleben imaginieren (sollen), etwas Willkürliches. So erfahren wir zwar von Freuds 1905 erschienenen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; genauso gut jedoch hätte man die fünf Jahre vorher erschienene Traumdeutung notieren können.

Für Klatschliebhaber ist das Kapitel „Alltagsleben“ reserviert: „Wenn er empfängt, setzt Proust seinen Gast — in der Regel nur eine Person — an den kleinen Tisch neben dem Bett, und er nimmt selbst nichts zu sich.“ Das einzige Gericht, das Proust ganz aufißt (wenn er allein ist), soll — seiner treuen Dienerin Céleste Albaret zufolge — gebratene Seezunge gewesen sein. Weder Wein noch Schnäpse habe der oft im Bett liegende Dichter gemocht, sondern lediglich eisgekühltes Bier, das Odilon Albaret ihm in den letzten Jahren vorzugsweise aus dem Ritz holte. Über seine Kleidung erfahren wir: „Proust interessiert sich nur wegen seines Romans für Mode.“ Ein gewisser Lord Derby erinnert sich: „der erste Kerl, den wir jemals in einem Pelz dinieren sahen“. Und das, obwohl Proust darunter (dank Céleste weiß man das alles) ein langes Unterhemd und eine lange Unterhose aus „Rasurelwolle“ getragen haben soll, die „direkt aus dem Backofen kamen“, in dem sie — in ein Frotteehandtuch gewickelt — aufgewärmt wurden. Das Bild des Snobs zerbröckelt: Proust muß ein unglaublich umständlicher Mensch gewesen sein, dabei besessen von seiner Arbeit — während den wirklichen Snob ja auszeichnet, nicht zu arbeiten.

Was Prousts Liebesleben betrifft, ist der Herausgeber dieses Lexikons endlich einmal nicht versucht, wissen zu müssen, was man nur ahnen kann: „In Ermangelung von Dokumenten und Briefen, die leider vernichtet wurden, bleibt das Geheimnis hinsichtlich der Homosexualität im Leben Prousts in vollem Umfang bestehen.“ Prousts Nichte und Erbin Suzy Mante-Proust nämlich gestattete sich eine Familienzensur. Sie ließ etliche Briefe verschwinden, die Proust und dessen langjähriger Freund (und offensichtlich Geliebter) Reynaldo Hahn sich geschrieben haben. Ebenfalls zu den angenehmen Seiten des Proust-Lexikons gehört, daß Thiriet mit den erwähnten, in der Biographik verbreiteten Analogieschlüssen — der Zuordnung von lebenden zu Romanfiguren — zumindest vorsichtig umgeht.

Von absichtsloser Poesie in diesem Lexikon ist die nüchterne Beschreibung des Proustschen Schlaf- und Schreibzimmers im Pariser Boulevard Haussmann Nr. 102, das der geräuschempfindliche écrivain im September 1910 mit Kork tapezieren ließ. Problematisch dagegen sind die interpretierenden Passagen. Dabei stellen gerade die vermeintlich einfachen Inhaltsangaben und Zusammenfassungen eine Falle für unfreiwillige Komik dar. Das betrifft das „Lexikon der Werke“ (von Willy Hachez) ebenso wie das „Psychologische Portrait“ des Autors. Beispielsweise wird Proust eine „Hypersensibilität“ attestiert, als deren Folge Thiriet allen Ernstes angibt: „Proust vermag eine Sinfonie angenehmer Empfindungen zum Erklingen zu bringen, indem er alle Sinne mitschwingen läßt und durch diese sinnliche Wollust zugleich die erlesensten Regungen des Intellekts mit aufruft.“

Mit den Abrutschern ins Rentner- Feuilleton ist man jedoch schnell versöhnt, weil Thiriet Proust an den richtigen Stellen selbst zu Wort kommen läßt. Wie jeder Leser des 'FAZ‘-Magazins weiß, füllte Proust zweimal in seinem Leben jenen Fragebogen aus, mit dem sich allwöchentlich eine bundesrepublikanische Halbberühmtheit in dem Frankfurter Blatt entblößt. Als Proust das zweite Mal, mit 21 Jahren, nach Antworten suchte (aber nicht für jede Frage fand), war ihm schließlich klar, welche militärische Leistung er am meisten bewunderte: „Meinen freiwilligen Wehrdienst!“ Ferner gab der meisterhafte Selbstironiker an, an Männern schätze er „femininen Charme“, und an Frauen das Gegenteil.

William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Photos von Paul Nadar. Suhrkamp Verlag; aus dem Amerikanischen von Christoph Groffy, gebunden, 253 Seiten, 48 DM

Philippe Michel-Thiriet: Das Marcel Proust Lexikon. Suhrkamp; aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer, gebunden, 514 Seiten, 78 DM

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