Streiks begleiten nächtliche Tarifrunde

■ Am Tag der neuen ÖTV-Verhandlungsrunde setzten fast 400.000 Beschäftigte ihren Streik unvermindert fort/ Bundespräsident von Weizsäcker: Auseinandersetzungen „fast zwangsläufig“

Bonn/Stuttgart (dpa/ap/taz) — Die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst sollen sich schon vor der für gestern abend einberufenen ÖTV-Tarifrunde darauf geeinigt haben, die unteren und mittleren Einkommensbezüge um 5,6 Prozent anzuheben. Den oberen Gehaltsgruppen wollte Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), wie es bei 'dpa‘ hieß, 4,8 Prozent mehr Gehalt anbieten. Zwar hat das Bundesinnenministerium diese Angaben gestern mittag noch als „reine Spekulation“ abgetan, Sprecher einzelner Bundesländer nannten diese Zahlen allerdings „plausibel“ und „realistisch“. Der Schlichtervorschlag lag bei 5,4 Prozent. Die Gewerkschaften hatten dem zunächst zugestimmt, zuletzt aber erklärt, sie wollten sich damit nicht mehr zufriedengeben.

Gleichzeitig machten die Gewerkschaften vor der Wiederaufnahme der Verhandlungen deutlich, daß sie in ihrem Arbeitskampf bis zur Einigung am Verhandlungstisch um keinen Millimeter zurückstecken wollten. Am zehnten Streiktag legten an die 400.000 Arbeiter und Angestellten gestern die Arbeit nieder. Allein die ÖTV rief gestern 300.000 Mitglieder in den Ausstand. Dazu kamen Zehntausende Beschäftigte bei Bahn und Post. Schwerpunkte waren erneut der öffentliche Nahverkehr und die Müllabfuhr sowie der Fernreiseverkehr. In mehreren Bundesländern wurde die Energieversorgung einbezogen. Zu Arbeitsniederlegungen kam es auch in Krankenhäusern und Kindergärten.

Auf dem größten Flughafen des Kontinents, Frankfurt, der am Dienstag erstmals in seiner Geschichte völlig lahmgelegt worden war, wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Innerdeutsche Flüge gab es allerdings zunächst nur nach Berlin-Schönefeld, Dresden und Leipzig. Nach Angaben eines Lufthansa- Sprechers waren am Morgen praktisch alle westdeutschen Flughäfen geschlossen oder soweit behindert, daß kein innerdeutscher Verkehr möglich war. Erstmals wurde am Mittwoch auch der Stuttgarter Flughafen für 17 Stunden in den Streik einbezogen. Auf dem größten deutschen Charterflughafen in Düsseldorf war weiterhin alles still. Die Deutsche Bundesbahn hielt am Mittwoch nur ein „Notprogramm“ aufrecht. Bundesweit seien trotzdem 60 Prozent des Fernverkehrs abgewickelt worden, teilte eine Bahn-Sprecherin in Mainz mit. ICE-Züge ruhten weiterhin in ihren Depots. Insgesamt waren gestern von 900 Loks etwa 300 nicht mehr einsatzfähig. Bestreikt wurden nach Mitteilung der Gewerkschaft vor allem Nordrhein-Westfalen, Frankfurt, Hamburg und München. Heinz Dürr, Vorstandschef der Bundesbahn, schätzt den Verlust auf bisher etwa 100 Millionen Mark. Auch die Bundespost beklagte, daß in der ersten Streikwoche bereits mehr als 100 Firmen zu privaten Paketdiensten gewechselt seien. Wenn diese Kunden auf Dauer wegblieben, entspräche das einem Verlust von 1.000 Arbeitsplätzen. Die Postgewerkschaft setzte am Mittwoch den Streik mit fast 40.000 Beschäftigten beim Postdienst, bei Telekom und der Postbank fort. Die Schwerpunkte waren von Kiel bis München achtzehn Großstädte.

Kurz vor Aufnahme der abendlichen Gesprächsrunde erklärte ÖTV- Vorstandssprecher Rainer Hillgärtner, mit einer Einigung der Tarifpartner allein sei der Streik noch nicht zu Ende. Erst müsse das ausgehandelte Ergebnis durch eine Urabstimmung, die allerdings schnell durchgeführt werden könnte, von den Gewerkschaftsmitgliedern akzeptiert werden.

Nach Ansicht von Bundespräsident Richard von Weizsäcker geht es bei den derzeitigen Tarifauseinandersetzungen nicht nur um Lohnsteigerungen, sondern auch um Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“ und „angemessene Lastenverteilung“ im Prozeß der deutschen Vereinigung. In einem Zeitungsgespräch meinte Weizsäcker, die aktuellen Tarifauseinandersetzungen seien „fast zwangsläufig“ eingetreten. Wesentliche Leistungen vom Bundeshaushalt in den neuen Ländern seien in den Konsum gegangen. Dies habe Profit für westliche Lieferanten gebracht. Ihren Bestimmungen gemäß wollten nun die Gewerkschaften an diesem Gewinn teilhaben.