Die Nacht der Entscheidung im Streik

Die ÖTV will mit einem „Kappungsbetrag“ den Anstieg der Spitzengehälter begrenzen  ■ Von Martin Kempe

Berlin (taz) — „Sie haben eben immer noch nicht gelernt, wie man mit uns umzugehen hat“, kommentierte gestern ÖTV-Sprecher Rainer Hillgärtner gegenüber der taz den Umstand, daß bisher kein Kurier der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes seinen Weg in die Theodor-Heuss- Straße nach Stuttgart gefunden hat, um vor Verhandlungsbeginn um 18 Uhr das angekündigte Angebot zu überbringen. Klar war nur, daß es eine Differenzierung der Lohn- und Gehaltssteigerungen zugunsten der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen enthalten sollte. Aber die entscheidende Frage, welchen Gesamtumfang das Angebot enthalten würde, blieb bis zuletzt offen.

Die ÖTV ist mit einer „sozialen Komponente“ einverstanden. Mit der Forderung nach einem Einmalbetrag von 500 Mark für die ersten drei Monate und einer Erhöhung des Urlaubsgeldes um 100 DM habe sie bereits ein Signal in diese Richtung gegeben, sagt sie. In die Verhandlungen gestern abend ist sie mit dem Vorschlag eines „Kappungsbetrages“ gegangen: Wenn die generelle prozentuale Erhöhung in den höheren Gehaltsgruppen einen bestimmten Betrag überschreitet, wird nur noch ein Festbetrag ausgezahlt.

Bei einem Kappungsbetrag von 250 DM betrüge die prozentuale Erhöhung für einen Referatsleiter (41 Jahre, verheiratet, 2 Kinder) in der höchsten Vergütungsgruppe I nach BAT nur rund 3,15 Punkte. Im Gegenzug könnte für die unteren und mitteleren Lohn- und Gehaltsgruppen eine etwas höhere prozentuale Einkommenssteigerung vereinbart werden.

Viel wird das allerdings kaum bringen. Denn im öffentlichen Dienst hat die Lohn- und Gehaltspyramide einen breiten Sockel und eine schmale Spitze. Rund 60 Prozent der etwa zwei Millionen Beamten in den alten Bundesländern gehören dem einfachen und mittleren Dienst an. Bei der Bahn und Post sind es 80 Prozent. Unter den Angestellten sieht es nicht anders aus. Die Einkommen sind in diesen Bereichen nicht gerade üppig — nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften jahrzehntelang immer wieder auf einheitliche Prozenterhöhungen gesetzt haben, was die Einkommensschere zwischen oben und unten immer weiter aufgerissen hat. So verdient eine 30jährige Krankenschwester mit einem Kind bisher brutto 3.675,77 DM. Eine Gehaltserhöhung von 5,4 Prozent (Vorschlag des Schlichters) brächte ihr 198,49 DM mehr. Ein Müllarbeiter, verheiratet, zwei Kinder, muß einschließlich aller Zulagen bisher mit 3781,81 DM auskommen. Eine 5,4prozentige Erhöhung brächte ihm 204,21 DM, wenn alle Zulagen in die Erhöhung miteinbezogen würden. Wenn man die bisherige Differenz zwischen Arbeitgeberangebot (4,8 Prozent) und dem gewerkschaftlich akzeptierten Schlichterspruch (5,4 Prozent) zugrundelegt, geht es bei dem Streik in den unteren und mittleren Einkommensgruppen um Beträge zwischen 20 und 40 Mark monatlich.

Die ÖTV wird den Streik nicht beenden können, wenn sie ihrer kampfstarken Basis in den unteren und mittleren Einkommensgruppen nicht ein Ergebnis knapp über dem Schlichterspruch von 5,4 Prozent bietet. Das heißt: Der Kappungsbetrag muß so tief angesetzt werden, daß er praktisch die gesamte akademische Klientel der Gewerkschaften von einer Erhöhung ausschließt. Die Arbeitgeber müßten sich bereit erklären, dieses Vorgehen auch auf übertarifliche Gehälter und Beamte anzuwenden. Anders ist das Finanzvolumen zugunsten höherer Prozente bei den unteren Einkommen nicht zu gewinnen.

Insbesondere die schleswig-holsteinische Finanzministerin, Heide Simonis, hatte in den letzten Wochen für eine sozial gestaffelte Einkommenserhöhung plädiert, allerdings auf Basis des von den Arbeitgebern angebotenen Gesamtvolumens von 4,8 Prozent. Sie dachte aber dabei eher an einen Sockelbetrag für die unteren Einkommensgruppen und — entsprechend — einem niedrigeren Prozentsatz für alle anderen. Diese Variante wäre für die Spitzengruppen zweifellos günstiger als ein fester Kappungsbetrag.

„Was nun, Frau Simonis?“, fragte der ÖTV- Sprecher Rainer Hillgärtner gestern vor Verhandlungsbeginn und forderte sie auf, auch beim eigenen Gehalt mit der sozialen Komponente ernst zu machen. Die Gewerkschaft wähnt sich nach ihrer gelungenen Machtdemonstration im Streik in der Offensive. Viele Äußerungen der letzten Tage bestärken sie darin, daß die Ablehnungsfront der Arbeitgeber bröckelt und die Kommunen und Länder stärker auf eine Einigung in der Nähe des Schlichterspruchs drängen als der unter unmittelbarem Einfluß der Bonner Regierung stehende Bund.