Was der Kirschblütenzweig sagen will

■ Das Museum für Völkerkunde in Dahlem zeigt Spiel- und Dokumentarfilme aus Japan

Japanische Spielfilme wirken fremdartig: Menschen in bunten Gewändern haben Probleme, die auf den ersten Blick keine sind. Kameras beobachten statisch in geschmackvoll kargen Räumen, wie Menschen unentwegt sprechen und sich unmerklich bewegen. Dazwischen irritieren immer wieder Begrüßungsrituale, Gangarten, Teezeremonien und Kirschblüten. Obwohl die Filme außergewöhnlich lang sind, passiert doch erstaunlich wenig.

Kostenlos und beinahe nonstop zeigt das Museum für Völkerkunde in Dahlem noch bis zum 17. Mai japanische Filme. 39 Dokumentarfilme informieren vor- und nachmittags über Traditionelles und Alltägliches: Kabuki- und Bunraku-Theater zum Beispiel, über Verpackungs- und Comic-Künstler oder über die berühmten Kuchen und Süßigkeiten von Kyoto. 16 Spielfilme repräsentieren unterschiedliche Sichtweisen und Stilrichtungen und ermöglichen Einblicke in die Filmkultur Japans. Die Arbeiten der Berühmtheiten Kurosawa, Ozu oder Mizoguchi bleiben bewußt ausgespart, statt dessen gibt es Raritäten — Filme, die hierzulande bisher nicht zu sehen waren.

Fiktives und Dokumentarisches verbindet Die Filmschauspielerin (Regie: Ichikawa Kon, 1987). Spielfilmsequenzen schildern das Leben von Tanaka Kinuyo, einer berühmten japanischen Aktrice. Dokumentarfotos und authentische Filmschnipsel durchbrechen die Handlung, um die Geschichte des japanischen Kinos zu rekapitulieren: von der ersten öffentlichen Filmvorführung in Osaka (1897) über die Einführung des Tonfilms und die Blütezeit des japanischen Kinos in den dreißiger Jahren, bis zum realistischen Filmschaffen der Nachkriegsära.

Okoto und Sasuke (Regie: Shimazu Yasujiro), ein Filmklassiker von 1935, zeigt Tanaka Kinuyo in der Hauptrolle. In weichem Schwarzweiß wird von der blinden Okoto erzählt, die meisterhaft Shamisen (ein Saiteninstrument) spielt und eigenwillig die Familie regiert. Der schüchterne Diener Sasuke begleitet Okoto täglich zum Musikunterricht und übt nachts heimlich Shamisen, bis ihn seine Herrin als Schüler akzeptiert. Als Okoto unerwartet schwanger wird, leugnet sie, was die häusliche Gerüchteküche vermutet und die Filmebene platonisch läßt — eine sexuelle Beziehung zu Sasuke. Okoto gibt das Kind zur Adoption frei und lebt unbeirrt bis zum Schluß, der sich nach psychoanalytischer Deutung sehnt.

Okoto und Sasuke ist langatmig wie fast jeder japanische Film. Zahlreiche Musikeinlagen fordern zusätzliches Durchhaltevermögen. Dennoch wirken Spielfilme im Völkerkundemuseum anders. Der Schauplatz verändert immer auch das Sehen. Die Lust auf Geschichten kann dem Interesse an Alltäglichem, Beiläufigem weichen — zu wissen, wie woanders gekocht und geschlafen wird und was in den Regalen der Kaufhäuser steht. Der ethnographische Blick läßt das Fiktive dokumentarisch erscheinen und schafft Distanz. Bilder bekommen Wahrheitsgehalt, und Sehen wird zur Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Zustände.

Im Verlauf der Spielfilmreihe kristallisiert sich ein Thema heraus: die Problematik selbstbestimmten Lebens zwischen Konventionen und Traditionen. Die meisten der gezeigten Filme spielen diese Thematik mit weiblichen Hauptfiguren durch. In Okoto und Sasuke finanziert eine unkonventionelle Frau ihren Lebensunterhalt selbst, und darf ihre Unabhängigkeit bis zum Filmende leben. Unkonventionell verhält sich auch die 17jährige Tamiko in Das Grab der wilden Chrysantheme (Regie: Sawai Shin-Ichiro, 1981). Das patente Mädchen verliebt sich in den sensiblen 15jährigen Masao, der ihre Zuneigung erwidert. Doch die Teenagerlovestory endet melodramatisch. Vielleicht, weil der Film 1850 spielt, die Macht der Großfamilie ungebrochen ist und die Gesetze überschreitende Frau endlich doch in die Schranken gewiesen werden muß.

Um eine Frau, deren Begehren unerfüllt bleibt und bestraft wird, geht es auch in Ogin, ihre Liebe und Treue von Kei Kumai (1977). Die Handlung spielt im feudalistischen Japan des 16. Jahrhunderts, der Zeit der Samurai und Bürgerkriege. Ogin, die Tochter eines Teemeisters, gesteht dem Großgrundbesitzer und Christenmenschen Ukon ihre Liebe. Da Ukon verheiratet und gläubig ist, weist er Ogin zurück. Der Feldherr Hideyoshi will seine Macht ausbauen, verfolgt die Christen und wirft nebenbei ein Auge auf Ogin, der nur ein erlösender Messerstich in kalter Winternacht bleibt.

Ogin, ihre Liebe und Treue ist genretypischer Vertreter sogenannter Jidaigeki-Historienfilme, die in der Tokugawa- oder Edo-Zeit angesiedelt sind und von heroischen, nonkonformistischen Schwertkämpfern bevölkert werden. Wie Einzelkämpfer im modernen Tokio zwischen Hochhaussilos und Neonreklamen agieren, zeigt Der Mann, der die Sonne stahl (Regie: Hasegawa Kazuhiko, 1979). Der kaugummiblasende, jugendliche Physiklehrer Kito baut in Heimarbeit eine Atombombe — mehr oder weniger aus Langeweile. Die Bombe ist bowlingkugelgroß, handlich und praktisch in der Sporttasche zu tragen.

Fortan nennt Kito sich Nr. 9 (da acht Nationen Atombomben besitzen) und erpreßt die Regierung mit schlichten Forderungen: Baseballspiele sollen im Fernsehen vollständig und ohne Werbung übertragen werden, die Rolling Stones müssen in Tokio singen, am Ende will der A- Bomben-Mann 500 Millionen Yen. Rasante Zooms, schnelle Schnitte, experimentelle Sequenzen, wahnwitzige Verfolgungsjagden zu Reggae-Musik, Radiogedudel und Muzak — Der Mann, der die Sonne stahl ist unkonventionelle Vergangenheitsbewältigung, realistisches Gegenwartsporträt und bildet vielleicht deshalb Schluß- und Höhepunkt der gesamten Filmreihe.

Spätestens nach dem 55. Film wirken japanische Filme weniger fremdartig. Begrüßungsrituale, Teezeremonien und Gangarten werden beim mehrmaligen Betrachten vertraut und erhalten durch Dokumentarisches erklärende Hintergründe. Ein Kirschblütenzweig verweist auch auf blühende Jugend, knospende Sexualität, sommerschwere Lebensgeister. Vielleicht hat man am Ende der filmischen Reise eine vage Ahnung, wie es in Japan aussieht und warum es so aussieht. Michaela Lechner

JapanFilmFest bis zum 17.5. im Museum für Völkerkunde, Großer Vortragssaal, Lansstraße 8, Dahlem, täglich außer Montag gibt es Dokumentarfilme ab 11, Spielfilme ab 14.30 und 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.