Ein Fisch wie Theresa

Säuglinge ohne Gehirn werden für tot erklärt, obwohl sie nicht gestorben sind: Ein Segen für die Transplantationsmedizin?  ■ Von Gisela Wuttke

Erneut wird öffentlich darüber diskutiert, ob es rechtens sein kann, anencephale Säuglinge für tot zu erklären, ohne daß sie zuvor gestorben sind. Anencephale, das sind Geschöpfe ohne geschlossene Schädeldecke, deren Gehirne nicht voll ausgebildet sind. Schwangere Frauen, die sich für pränatale Vorsorge entscheiden, erfahren zumeist schon nach der ersten Ultraschalluntersuchung von der Anencephalie ihres Ungeborenen. Doch kommt es immer wieder vor, daß Schwangere erst nach der 22. Schwangerschaftswoche erfahren, daß ihr Kind keine Überlebenschance hat. Was passiert, wenn man von diesen Frauen fordert, ihr Ungeborenes zur Welt zu bringen, um mit ihm „etwas Gutes“ zu tun, also seine Organe für Transplantationen „freizugeben“?

Richterin verurteilt Säugling zum Leben

So hatten sich auch die Eltern von Theresa Ann Campo Pearson entschieden. Damit die Organe ihrer Tochter keinen Schaden nähmen, stritten die Eltern vor Gericht darum, den Säugling für tot zu erklären, obwohl dieser noch atmete. „Wir kämpfen nicht dafür, jemandem das Leben zu nehmen, sondern dafür, Leben zu geben“, erklärte der Vater der Fernsehanstalt WSVN. Richterin Estella Moriarty indes wies dieses Begehren mit der Begründung ab, sie könne „niemandem erlauben, einem Baby das Leben zu nehmen, so kurz und unvollkommen dieses Leben auch sein mag, damit ein anderes Kind gerettet wird“.1 'American Press‘ sah die Sache anders: Die Richterin habe den Säugling „zum Leben verurteilt und damit gegen den Willen der Eltern entschieden“. Das Leben des Säuglings gegen den Willen der Eltern. Zu diesem Zeitpunkt noch beschrieben die Ärzte den Zustand des Kindes als „stabil“, es benötigte keine künstliche Beatmung.

Erst nachdem die Eltern in drei Instanzen unterlagen, durfte Theresa Ann schließlich — neun Tage nach ihrer Geburt und Stunden nach Abschaltung der künstlichen Beatmung— sterben, ohne daß ihr zuvor die Organe herausgeschnitten worden waren. Um einen Präzedenzfall zu schaffen, riefen die Eltern nochmals das Oberste Gericht des Staates Florida. Diesmal akzeptierte es ihr Begehren, weil es ein „öffentliches Interesse“ für gegeben ansah.

Auch in Italien kämpft derzeit ein Vater darum, seine anencephale Tochter für tot erklären lassen zu dürfen: „Macht es doch möglich, daß Valentina anderen Kindern helfen kann“, fleht er vor laufenden Fernsehkameras. Dr. Primo Vanadia, Chefarzt von Palermo, will sich indes nicht „über ethische, rechtliche oder religiöse Fragen“ auslassen, sondern über das Schicksal Valentinas „nicht die anderen vergessen, die auch ein Recht haben auf ein lebenswertes Leben“.2

Kein Mensch wird bestreiten wollen, daß das Recht auf ein lebenswertes Leben keinen Ausschluß irgendeiner Person duldet. Vielmehr ist aber doch die Frage, ob dieses Recht die wissentliche Tötung eines anderen Menschen miteinschließt. Dies kann in der Praxis nur gelingen, wenn man das Leben von anencephalen Säuglingen umdefiniert als „Nie- Leben“, eine Kategorie, die bereits vor Jahren von deutschen Medizinern in die Tat umgesetzt wurde. Im Jahr 1987 veröffentlichten die beiden Mediziner Fritz Beller und Wolfgang Holzgreve von der Universitätsklinik Münster im renommierten 'New England Journal of Medicine‘, daß sie bereits zwei Jahre zuvor „Transplantationsentbindungen“ durchgeführt hatten, bei denen „der gehirnlose Fötus unmittelbar nach der ,Entwicklung‘ (da er nicht lebt, wird er auch nicht geboren) intubiert wird, um die Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten“.3 Die Chirurgen hoffen mit dieser Methode „ein Tor aufgestoßen“ zu haben. Lebewesen wurden explantiert.

Doch auch Beller kommt nicht das zweifelhafte Verdienst zu, der erste im Lande gewesen zu sein. Bereits 1984 explantierte der Papenburger Frauenarzt Köhler einen anencephalen Säugling, wie er nicht ohne Stolz mitteilte: „Nachdem... beide Nieren en bloc entnommen... waren, wurde die Beatmung eingestellt; kurze Zeit später verstarb das Kind.“4: Es verstarb „später“, war nicht hirntot, nicht tot, gestorben.

Anencephale Säuglinge als lebende Organbanken

Troug und Fletcher, zwei der vielzitierten amerikanischen Mediziner, erwähnen in einem Beitrag, der die Verwendung von anencephalen Säuglingen rechtfertigen soll, den ersten „erfolgreichen“ Versuch, das Herz eines Anencephalen zu transplantieren: „Als sich... am zweiten Lebenstag Herzrhythmusstörungen einstellten, wurde das Kind in den Operationssaal gebracht und durch Eintauchen in Eiswasser unterkühlt. Als nach 40 Minuten die Herztätigkeit aussetzte, entnahmen die Chirurgen sein Herz und implantierten es einem Neugeborenen.“5 Das Baby lebte mit diesem Herzen gerade sechs Stunden...

Jetzt setzte sich also fort, was bereits vor Jahren denkbar gemacht und versucht wurde: Anencephale als lebende Organbanken auszuschlachten — und dies sogar mit Zustimmung und „zum Trost“ der Eltern, damit diese auch beim Geschacher um das Leben mitmachen.

Der „Sonderfall Anencephalus“ (der Münsteraner Mediziner Beller), ein Geschenk des Himmels für die Transplantationsmedizin? Damals distanzierte sich die Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren von Bellers „weltweitem Durchbruch“ und beschied in ihrer Resolution von 1987, daß „ein anencephales Neugeborenes nicht schon aufgrund seiner Fehlbildung als tot angesehen werden“ könne und sein Hirntod daher „zweifelsfrei festgestellt werden“ müsse. Daß dies beim Anencephalus praktisch unmöglich ist, macht den Streit unter Kollegen zum institutionellen Disput.

Wenn zukünftig das Kriterium der „Selektion“ (Mediziner-Jargon) nicht mehr der Hirntod, zweifelhaft genug, sondern bereits der sicher zu erwartende Tod sein wird, dann werden nicht nur die Anencephalen, sondern auch andere Schwerstgeschädigte vom Seziermesser bedroht sein. In den USA ist die Diskussion gerade um den Vorschlag bereichert worden, auch PatientInnen im „permanent vegetative state“6 als tot zu erklären. Dabei handelt es sich um ein unter Umständen fortwährendes Wachkoma („Apallisches Syndrom“). Wem also keine Chance mehr gegeben wird, der ist so gut wie tot. Man muß diese Menschen nur tief genug verachten.

Robert J. Levine jedenfalls, Medizinethiker an der Universität Yale, sieht bei solchen Menschlein wie Theresa Ann mehr Ähnlichkeiten „mit einem Fisch denn mit einem Individuum“7. An der Universitätsklinik Münster wird man sich freuen. Gegen die dortigen Ärzte Beller, Holzgreve und andere gab es weder ein Standes- noch ein Strafverfahren. Anencephale gelten leichthin als vogelfrei.

Die Föten und die Anencephalen, sie könnten — neben den Schweinen, Schafen und Kälbern — der Transplantationsmedizin künftig Tür und Tor öffnen. So investiert die deutsche Forschungsgesellscaft allein 1992 etwa zwei Millionen Mark in den „Sonderforschungsbereich“ der Medizinischen Hochschule Hannover, wo die Verträglichkeit des tierischen Organs auf das menschliche Immunsystem erforscht wird. Baby Fae, das kleine Mädchen mit dem Affenherzen, muß sich damit zum Glück nicht mehr quälen. Es starb 1984, nur wenige Stunden nach der Transplantation.

1'ap‘ vom 30.3.1992

2'Frankfurter Rundschau‘ vom 15.4.1992

3'Westfälische Nachrichten‘ vom 22.5.1987

4zit. nach: 'Dr. Marbuse‘ Nr. 56/1988

5'Bioethics‘, vol. 4, no. 3/1990

6'New York Times‘ vom 29.4.1992

7'New York Times‘ vom 29.3.1992