Nun gänzlich heimisch

Natalie Cole in der Berliner Philharmonie  ■ Von Gerhard Midding

Sie beginnt, anders als die Ouvertüre es erwarten läßt, nicht mit einer Emphase, sondern mit einem Hauch: The Very Thought of You. Das Lied, sanftes Intro ihrer Unforgettable-LP, ist auch die passende Einstimmung auf ihre Show. Zunächst ist es nämlich, eine gute halbe Stunde lang, das Konzert zur Platte: Natalie Cole erlaubt sich keinen Schlenker, der vom Repertoire abweicht (was natürlich auch beim Publikum die Freude an dessen Verläßlich- und Vorhersehbarkeit schürt: Jeder Zuhörer kann sicher sein, daß seine Favoriten auch irgendwann gesungen werden). Selbst ihre Einführungsworte zu den Liedern erinnern an ihre „liner notes“ auf dem Plattencover. Sie singt verhalten in diesem ersten Teil, in vorsichtiger Mittellage, gelegentlich auch vom Orchester übertönt. Daß sie sich beim zweiten Stück räuspern muß, zeigt, daß es noch eine Weile dauern wird, bis sie sich auf der Bühne wohlfühlt. Von der Intensität und der überschwenglichen Improvisationslust ihrer in den USA legendären Live-Auftritte der Siebziger ist noch wenig zu erahnen. Routiniert wechselt sie zwischen Balladen und swingenderen Stücken.

Diese Bescheidenheit liegt natürlich im Charakter des ganzen Unternehmens begründet: Es ist eine Hommage an ihren Vater Nat King Cole. Das ist sicher keine schwer auf ihr lastende biographische Bringschuld, die sie mit dieser sentimentalen Reise durch sein Oeuvre einlöst. Eher der Versuch, den Bogen zurückzuschlagen zu verträumteren Zeiten: der Kindheit, in der sie diese Lieder zum ersten Mal hörte. Vielleicht auch der Wunsch, die Brüche in der eigenen wechselvollen Biographie zu vergessen und sich auf Familientraditionen zu besinnen. Es ist etwas Faszinierendes und Rührendes um den Erfolgswunsch von Kindern berühmter Eltern: zunächst der Drang, etwas ganz Anderes zu machen und sich dann, wenn nichts mehr zu beweisen ist, den Eltern wieder anzunähern. Natalie Cole hat diese Ehrerbietung zu Grammy-Triumphen geführt, auch kommerziell scheint dieser Schritt wohlkalkuliert. Mir gefällt daran, daß auf diese Weise Zuhörer, die noch nie etwas von Ray Noble, Bobby Troup und Rodgers & Hart gehört haben, nun deren Kompositionen mitsingen können.

In dem Augenblick, in dem Natalie sich auf die musikalischen Ursprünge Nats zurückbesinnt, gewinnt ihr Auftritt die Intensität, die ihm bis dahin fehlte. Das große Orchester pausiert, mit kleiner Besetzung spielt sie Stücke des Nat-King- Cole-Trios aus den späten Vierzigern, der Nahtstelle zwischen Jazz und Pop in den Ausläufern der Swing-Ära. Da spielte Nat noch Piano und wurde von einem Bassisten und einem Gitarristen begleitet, da verließ er sich noch nicht auf die sanften Schmeichelklänge der Streicher und die raffinierten Arrangements von Nelson Riddle (die auf der LP während des Auftritts gelegentlich zitiert, aber nie imitiert werden). Gelenkig trifft Natalie den Witz von Straighten up And Fly Right und wagt es fortan, jazziger zu werden. Nun facettiert sie ihre Mittel reicher, moduliert hartnäckiger. Endlich vertraut sie dem Volumen und der Spannweite ihrer Stimme, dehnt Vokalpassagen und bricht immer häufiger aus in mitreißende Scat-Einlagen. Diese Technik des wortlosen Gesangs kultivierte sie schon als Soulsängerin, im Jazz-Repertoire wird sie damit nun gänzlich heimisch.

Wie gut, daß der ÖTV-Streik eine Pause in der Philharmonie vereitelt hat: unmöglich, sich jetzt eine Zäsur vorzustellen! Die Beziehung zum Publikum ist endgültig geknüpft, sie wagt immer häufigere Improvisationen und wechselt souverän die Tempi. Ohne dabei jedoch ihre Disziplin aufzugeben, denn vor allem fühlt sie sich den Songs und den Interpretationen ihres Vaters verpflichtet. Die Zuhörer danken es ihr mit frenetischem Beifall, auch diejenigen, die noch nie etwas von Ray Noble, Bobby Troup und Rodgers & Hart gehört haben.