Widerstand gegen Bevormundung

■ Betr.: "Der Aufstand der reichen Regionen" von Werner Raith, Eurotaz vom 29.4.92

Betr.: „Der Aufstand der reichen Regionen“ von Werner Raith,

Eurotaz vom 29.4. 1992

Werner Raith schreibt aus Rom über Schottland. Dabei sind nicht alle Fakten richtig geraten. Die „Scottish Nation Party“ (SNP) hat nicht, wie dort beschrieben, einen ihrer beiden bisherigen Sitze verloren, sondern einen von vier. Im Falle Schottlands geht es eher um Widerstand gegen Bevormundung als um eine Neuverteilung des Reichtums. Was Werner Raith nicht erwähnt, ist der Wunsch der Menschen in Schottland, über ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu entscheiden.

Das London unterstehende „Scottish Office“ (Schottische Behörde) ist eher mit einer deutschen Bezirksregierung zu vergleichen. Zwar hat Schottland ein eigenes Bildungs- und Justizsystem. Gesetze darüber beschließt aber das in London ansässige Unterhaus. Seit 1979 — dem Jahr des konservativen Regierungsantritts im Vereinigten Königreich — sind alle wichtigen Schottland betreffenden Gesetze gegen die Mehrheit der schottischen Abgeordneten beschlossen worden. Am 9.4. 1992 gewannen die Konservativen elf von 72 schottischen Wahlkreisen. Sie lehnen aber weiterhin den in Schottland weitverbreiteten Wunsch ab, ein eigenes schottisches Parlament einzurichten. Auch einer Volksabstimmung darüber stehen sie ablehnend gegenüber. Als Reaktion darauf entwickelte sich in Schottland die Idee einer selbstorganisierten nicht-staatlichen Volksabstimmung. [...]

In Schottland kamen rassistische, ausländerfeindliche Ausfälle von einem wiedergewählten konservativen Abgeordneten, die Politik der SNP steht dagegen unter dem Motto „Unabhängigkeit in Europa“. Die in England grassierende Angst vor Europa findet sich so weder in Schottland noch in Wales. Die Grünen und die SNP waren in Schottland die einzigen Parteien, die gegen Atomwaffen, Atomreaktoren und Atommüll eingetreten sind. Die SNP tritt für ein sozialistisches Schottland ein.

Die unbeliebte örtliche Kopfsteuer „Poll Tax“ wurde von der britischen Regierung in Schottland ein Jahr früher als in England und Wales als Versuchsballon eingeführt. In Schottland führte das zu 40 Prozent Nichtzahlenden. Diese massive Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam, vor allem auch ärmerer Menschen in Schottland, war gewiß kein Geiz. Die Anmerkungen von Werner Raith scheinen mir nicht von Kenntnis der schottischen Situation gekennzeichnet. Nichtzahlende sitzen teilweise heute noch im Gefängnis. Eine Möglichkeit, das zu verhindern, ist es, sich jeglicher behördlicher Registrierung zu entziehen, was aber auch zum Verlust des Wahlrechts für die Betroffenen führt.

[...] Ich habe leider den Eindruck, daß Unabhängigkeitsbewegungen nur dann ernst genommen werden, wenn sie zum Mord an Unschuldigen bereit sind. „Plaid Cymru“, die walisische Nationalpartei, ist aber der Gewaltlosigkeit verpflichtet und hatte von 1945 bis 1981 einen Kriegsdienstverweigerer als Präsidenten und auch zweimal als Unterhausabgeordneten. Diese Partei erhöhte am 9.4. 1992 die Anzahl ihrer Sitze im britischen Unterhaus von drei auf vier! In Wales haben die Konservativen sechs von 38 Sitzen gewonnen.

In Großbritannien gibt es ein deutliches Wohlstandsgefälle. Aus dem relativ reichen Südosten Englands kommen Aufkäufer in ärmere Gebiete wie Wales, um sich dort Zweitwohnungen zu kaufen, wo sich die einheimische Bevölkerung oft nicht einmal Erstwohnungen leisten kann. Die Folge ist eine Einplattung von Kultur. Menschen aus Wales, Schottland und Irland suchen Arbeit in England. Im Regelfall gehören sie dort zur Unterschicht. Chancengleichheit für Menschen aus den verschiedenen Teilen des Vereinigten Königreichs wird nicht erreicht.

Zusammenfassend möchte ich davor warnen, die schottische und die walisische Nationalbewegung in deutsche Denkschablonen einzuquetschen. Das wird den Menschen dort nicht gerecht. Hubert Gieschen, Wildeshausen