PRESS-SCHLAG
: „Ich war der Auserwählte“

■ Die leidvollen Erfahrungen eines Final-Balles

Eigentlich ist es komisch. Da treten 22 Leute 90 Minuten auf mich ein, 90 Minuten bin ich das Objekt ihrer Begierde, da werde ich hin und her geschoben, da wird um mich gekämpft, und sobald dieser Pfiff, dieser alles beendende Pfiff ertönt, werde ich links liegen gelassen. Leere breitet sich aus. Um mich herum jubeln die Leute, und ich gehöre nicht mehr dazu. Und dann ist da doch noch einer gekommen und hat mich... aber dazu später.

Angefangen hat alles beim Nähen. Da habe ich das erste Mal erfahren, wozu ich auf dieser Welt bin. Da schwirrten Gerüchte durch den Raum von großen Auftritten vor Tausenden von begeisterten Menschen. Aber wie gesagt, Gerüchte. Mir wurde auch gesagt, daß ich eine Zukunft haben könnte, bei der mich lediglich 23 Paar Augen beobachten würden. Und es war auch nur Zufall, daß ich zu den Dreien gehörte, die für dieses Spiel nach Lissabon geschickt wurden.

Ich glaube nicht, daß mich etwas Besonderes vor meinen zahlreichen Brüdern auszeichnete. Aber dann lag ich da, gut aufgepumpt mit glänzender Haut und dieses Herr in schwarz, Signore Dyelia nannten ihn die Leute, griff nach mir, drückte mich kräftig mit den Fingern, schmiß mich ein paar Mal auf den Boden und entschied: „Der ist gut, den nehmen wir!“

Ich war der Auserwählte. Ich! Ich fühlte mich wie ein König. Stolz blähte ich meinen runden Körper. Wenn ich gewußt hätte, was auf mich zukommt. Aber ich war ja vor dem Spiel so gut wie unberührt. Danach gings raus. Behutsam getragen, eskortiert von meinen zwei Brüdern. Der Einzug in die Arena, ein einziger Triumph. Die Menschen jubelten mir zu, sobald sie mich erblickten. Und der Herr in schwarz, gefolgt von meiner Leibwache, trug mich bis in die Mitte des Platzes und legte mich dort sorgsam auf den Punkt. Meine weiche Haut bekam leider gleich die ersten Flecken, und der Rasenteppich kitzelte mich.

Dann kam der Anpfiff, und ich wurde das erste Mal mit dem Fuß gespielt. Ich war endlich eins mit meiner Berufung. Was hatte ich für Träume gehabt: Da wurde ich sacht mit dem Fuß aus der Luft geholt, wie ein rohes Ei behandelt. Oder blitzschnell von einem Fuß zum anderen geschoben. Ein brausender Flug, um dann vom Netz gefangen zu werden, weich nachzuwippen und zur Erde abzutropfen. Träume! In Wirklichkeit wurde nach mir wüst getreten, wild gestochert. Kein Mitgefühl, keinen Sinn für Ästhetik hatten meine Spieler. Planlos wurde ich durch die Gegend gedroschen, blind geworfen. Mit den Füßen gestreichelt hat mich an diesem Abend keiner. Sicher, es gab auch schöne Momente. Wenn mich die Torwarte in den Abendhimmel schlugen und ich mich über Rasen, Spieler und Zuschauer erhob. Wie mickrig alles unter mir wurde. Wenn mir dann zwanzig Kameras mit ihren Blicken folgten und die Bilder von meinen erhabenen, von den grobschlächtigen Füßen befreiten Flug in die Welt hinaus transportierten. Das waren glückliche Momente. Da war es mir egal, wo ich am Ende landete. Einmal soll ich ja sogar eine Großaufnahme gekriegt haben. Aber das war es dann auch schon.

Ach ja, ganz zum Schluß, nach dem Abpfiff, als ich so verlassen dalag, kam Signore Dyelia zu mir und hob mich auf. Und beim Hinaustragen aus dem Stadion streichelte er mich. Wirklich, er hat mich richtig gestreichelt, als wollte er sagen: „Du hast deine Sache heute verdammt gut gemacht.“ Peter Huth