Demokratisierung auf neudeutsch

Der jüngste Rechtsruck macht den Deutschen zu viel Angst vor den Deutschen  ■ VON EBERHARD SEIDEL-PIELEN

Nach Hoyerswerda, Hünxe, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg riecht die ganze Stammtischchose wieder mehr nach Schweiß, Blut, Feuer und Rauch. Und auch metropolitanen Schöngeistern dämmert allmählich: Rassismus, der ewige Spießer, ja sogar der Nationalsozialismus sind keine blutleere Angelegenheit universitärer Proseminare, historisierender Rundblicke und ästhetisch wirkungsvoller Bühneninszenierungen mehr.

Die Wiedervereinigung und die anschließende Auflösung US-amerikanischer und sowjetischer Vormundschaften hat das durch Auschwitz und zwei verlorene Kriege vorübergehend betäubte, aggressive Potential der Deutschen wiedererweckt. Folgerichtig hat die „Betroffenheitsfraktion“ der Nation nach erfolgter Stationierung der Pershings, durchlittenem Waldsterben und post-tschernobylen Untergangsszenarien wieder einmal ihr Lieblingsgefühl entdeckt — die Angst. Angesichts einiger Millionen waschechter Nationalsozialisten, autoritärer Rechtsaußen, enttäuschter Bauern, frustrierter Kleinbürger und verängstigter Facharbeiter zittern ihnen die Knie. Politisch voll auf der Höhe und mit ungebrochenem Bekennermut verunstalten sie ihre Trenchcoats und Aktenköfferchen mit so intelligenten Buttons und Aufklebern wie „Mehr Mut tut gut“ oder „Auch ich bin Ausländer fast überall“.

Die Angst vor den Deutschen geht um im Land. Am meisten Schiß haben natürlich wieder einmal die weinseligen Toskanaisten. Dabei sind gerade sie in ihrer Normalität für die rechten Totschläger völlig uninteressant und für deren geistigen Mentoren liberale Schwätzer, die man links liegen läßt: Weder schwul noch schwarz, weder Muslim noch Exot, weder Hausbesetzer noch Prostituierte, weder Zuhälter noch Penner, sind sie schlichtweg opferuntauglich. Dies um so mehr, seit sie sauertöpfisch staatstragend nicht einmal mehr für die zünftige Plünderung eines Computeraktes anläßlich der 5. Kreuzberger Mai-Festspiele zu begeistern sind.

Warum diese Aufregung um die Deutschen? Sie sind nicht schlechter und faschistoider als vor zehn, zwanzig oder 45 Jahren. Im Gegenteil. Seit 1871 gab es auf deutschem Boden noch keine demokratischere, pluralistischere und tolerantere Gesellschaft. Nur noch rund 14 Millionen Deutsche (20 Prozent der Bevölkerung im Westen und 13 Prozent im Osten) sind heute zum Beispiel rabiat schwulenfeindlich und würden ohne großes Wimpernzucken der Zwangskastration von Schwulen zustimmen. Das ist etwa der Bevölkerungsanteil, der nach der 1980 erstellten Sinus-Studie ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild verinnerlicht hat; dessen Hauptstützen ein nationalsozialistisches Weltbild, Haß auf Fremdengruppen, Demokratie und Pluralismus sowie eine übersteigerte Verehrung von Volk, Vaterland und Familie sind.

Demokratischer als je zuvor in der Geschichte

Im Vergleich zu den rund 50 Prozent Deutschen (mehr als 30 Millionen), die Ende der vierziger Jahre nach Erhebungen amerikanischer Soziologen den Nationalismus (minus Auschwitz, minus Krieg) immer noch für eine ausgemacht gute Sache hielten, ein echter Erfolg des Demokratisierungsprozesses. Gut Ding will Weile haben. Aus zig Millionen Untertanen wurden im Laufe der Jahrzehnte annähernd selbstbewußte Citoyens.

Die Fortschritte der Bundesrepublik auf dem Weg zu einer an den Idealen des aufgeklärten Humanismus orientierten Demokratie dürfen angesichts einiger tausend um sich schlagender Jungfaschos nicht aus den Augen verloren werden. Seit 1968 entwickelte sich eine demokratische Alltags- und Kleinkultur, die Anlaß zur Hoffnung gibt. Schönheitsfleck— neben der anachronistischen, völkischen Definition Bundesrepublik mit all ihren Konsequenzen — sind die rund zehn Millionen Altbundesbürger und ein paar Millionen Neubundesbürger, die von der von Willy Brandt ausgegebenen Losung „Mehr Demokratie wagen“ nie erreicht wurden.

Angesichts dieser doch im großen und ganzen erfreulichen Entwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte ist die aufgescheuchte Hysterie über die Wahlerfolge der DVU und „Republikaner“ unverständlich. Mit der Renaissance der Schönhuber-Partei wird weder die „zivile Gesellschaft“ noch die politische Kultur des Landes gefährdet — solange die Westrepublik nicht in ähnlich stürmische soziale und gesellschaftliche Umstürze wie die fünf neuen Bundesländer gerät. Im Gegenteil. Wenn Franz Schönhuber das Bundesverdienstkreuz nicht schon erhalten hätte, man müßte es ihm spätestens nach der Wahl in Baden-Württemberg verleihen und Gerhard Frey für seine Verdienste gleich mit. Beide haben sich um die Entwicklung der demokratischen Kultur des Landes weit mehr verdient gemacht als die übrigen Parteien.

Ihnen gelang das schier Unmögliche. Sie weckten Millionen von Deutschen aus ihrer jahrzehntelangen Lethargie und Paralyse. Der Untertan meldet sich auf der politischen Bühne zurück, von der er sich persönlich, oder stellvertretend der Vater und Großvater, am 8. Mai 1945 abgemeldet hat. Ein Volk sprengt seine Ketten! In einem in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen Kraftakt befreien sich diese Mündelkinder Rudolf Augsteins, Heinz Galinskis, Heinrich Bölls, Dr. Marion Gräfin Dönhoffs, Heiner Geißlers, Oskar Lafontaines, Bärbel Bohleys und Antje Vollmers aus der geistigen Vormundschaft und finden zu sich selbst. Der Aktienkurs dieser personifizierten moralischen Institutionen fällt und fällt. Endlich verstecken sich die kleinen und großen Faschisten, die Nationalisten, Autoritären und — wie es neudeutsch heißt — geistig und materiell Deklassierten nicht mehr hinter den Seifenblasen „unser demokratisches Gemeinwesen“ und „unsere soziale Marktwirtschaft“. Endlich trauen sie sich, Alfred Dreggers Appell von 1982 zu folgen — „Ich rufe alle Deutschen auf, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten; wir müssen endlich normal werden“ —, und artikulieren ihre Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens laut und präzise.

Seit Mitte der achtziger Jahre entwickeln die Bundesbürger ein beruhigend normales Wahlverhalten und beenden ihr Versteckspiel. Heutige Wahlergebnisse (zum Beispiel in Bremen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein) spiegeln die Gemütsverfassung der Nation differenzierter wider als die der Vergangenheit. Nicht zehn Prozent der Wähler, die für die „Republikaner“ stimmen, sollten beunruhigen, sondern die einzig sinnvolle Frage: Wo fühlen sich die fehlenden zehn Prozent rechtsextremer Deutscher wohl? Und zu welchem politischen Preis? Jedes künftige Wahlergebnis rechtsradikaler Parteien unter 15 Prozent wäre ein Rückschlag. Wieder wäre der Punkt erreicht, wo sich die echten Nationalsozialisten und todeshungrigen Spießer subaltern hinter einem christlich-liberal-sozialdemokratischen Geblubber von Sozialpartnerschaft und Wohlstand für alle verschanzen.

Besser im Parlament als im dunkeln

Für die künftige demokratische Entwicklung des neuen Deutschland wären zwei (zum Beispiel „Republikaner“ und DVU) konkurrierende, attraktive rechtsradikale Parteien mit rund 15 Prozent Stammwählern ein beruhigender Ausblick. Man hätte die Rechtsradikalen unterschiedlichster Couleur schön übersichtlich als berechenbare Größe versammelt und SPD, CDU, FDP, PDS und Grüne müßten sich nicht mehr in den eigenen Reihen mit ihnen herumschlagen. Die Rechten könnten in den Parlamenten, Ausschüssen und im politischen Alltagsgeschäft zeigen, was sie außer Billigparolen, Menschenverachtung und Geschichtsklitterung an innovativem, zukunftsweisendem und problemlösendem Gestaltungswillen und Kreativität so drauf haben.

Das parlamentarische Auftreten der „Republikaner“ im Berliner Abgeordnetenhaus in den Jahren 1989/1990 zumindest war eine Offenbarung ihrer Inkompetenz, Dummheit, aber auch Dreistigkeit. Die Präsenz rechtsradikaler Parteien im parlamentarischen Raum schützt vor Mythenbildung und neuen Dolchstoßlegenden.

Ignorieren, ausgrenzen, diffamieren, boykottieren... All diese diskutierten Strategien sind reichlich kindisch. Warum diese Panik und Furcht, sich der Diskussion mit Schönhuber und Co. zu stellen? Bei der Weigerung— „ich setz' mich doch nicht mit Rechten an einen Tisch“— drängt sich der Verdacht auf, daß bei vielen aufrechten Linken und wackeren Demokraten nicht strategisches Kalkül den Verstand führt, sondern die Furcht, sie könnten angesichts eines eloquenten Rechten oder eines Neonazis, der drei zusammenhängende Gedanken äußert, die eigene politische Überzeugungskraft verlieren und öffentlich wirksam einbrechen. Wie zum Beispiel neulich in Sat.1 die beiden VertreterInnen der Jusos, die Franz Schönhuber und seinem Kronprinzen, dem baden-württembergischen Rep-Vorsitzenden Rolf Schlierer, nichts anderes als ihre dünnen Stimmbänder entgegenzusetzen hatten.

Nein, nein. Da werden quer durch alle politischen Lager Pappkameraden aufgebaut. Natürlich ist Gerhard Frey ein Neonazi und Franz Schönhuber ein radikaler Rechter. Daran lassen die beiden Überzeugungstäter keinen Zweifel. Auch wenn sie hin und wieder Kreide fressen und sich in staatstragender Pose üben. Deshalb kann man sie eben auch so schön wuthassen. Aber es ist an der Zeit, liebgewordene Feindbilder zu überprüfen. Warum denn immer nur gegen einen Aufmarsch bekennender Nazis mobilisieren? Warum bleiben andere Politiker ungeschoren?

Zum Verfall der politischen Kultur im neuen Deutschland haben Leute wie das SPD-Vorstandsmitglied Friedhelm Farthmann weit wichtigere Beiträge geleistet. Anfang März schlug er für den künftigen Umgang mit Flüchtlingen vor: „Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.“ Farthmanns Sprache offenbart eine Geisteshaltung, mit der er bei den „Republikanern“ wenig Aussichten auf eine erwähnenswerte Karriere hätte. Das gleiche gilt für seinen Parteigenossen Günther Janßen, Sozialminister in Schleswig-Holstein, der am Rosenmontag zur Belustigung seiner Landsleute kurzerhand die 11.000 Asylbewerber des Landes zu einem Zählappell in den Kommunen antreten ließ. Ganz zu schweigen vom 'Spiegel‘-Kronzeugen Georg Kronawitter aus München, der in halsbrecherischen Manövern alles überholt, was sich rechts des rechten Randes der SPD ansiedelt.

Angesichts dieser saft- und kraftlosen Demokraten, die für den schieren Machterhalt jeden Preis zu zahlen bereit sind, müßten allen Bundesbürgern, für die Freiheits- und Menschenrechte nicht nur ein amüsantes Gesellschaftsspiel sind, die Haare zu Berge stehen.

Das Skinhead-Phänomen in allen Facetten

Opfer der Verdrängung der tieferliegenden Ursachen des Rechtsruckes sind die Skinheads. Brächten sie nicht immer wieder einmal Flüchtlinge um, könnten sie einem fast leid tun. Gäbe es keine Naziskins im neuen Deutschland, man hätte sie erfinden müssen. Die Überfälle besoffener Jungbullen auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe, auf Rumänen, Polen, Vietnamesen, ihre Radikalität und provokative Häßlichkeit machen es ihren geistesverwandten Mitbürgern leicht, sich mit leichtem Schauern im Fernsehsessel zurückzulehnen und jede Ähnlichkeit mit den Glatzköpfen weit von sich zu weisen. Die Rückkehr des Untertans auf ein Jugendproblem zu reduzieren, wie dies häufig geschieht, ist aber infam.

Je unappetitlicher die politische Stimmungslage in Deutschland wird, um so bereitwilliger verlagert man die Diskussion um die Erscheinung rechtsradikaler Einstellungen aus dem historisch-politischen ausschließlich in den pädagogischen und psychologischen Raum. Es ist ja zu begrüßen, wenn sich in einer kritischen, aufgeklärten Öffentlichkeit langsam die Erkenntnis durchsetzt, daß nicht jeder Sechzehnjährige, der „Heil Hitler“ grölt, als Faschist zu denunzieren ist.

Alle Ansätze, die Jugendlichen eine Chance bieten, künftig ein selbstbestimmtes, auf Toleranz und Akzeptanz basierendes Leben zu führen, sind zu begrüßen. Aber wenn sich, wie derzeit zu beobachten ist, die gleichen westdeutschen Institutionen der Jugend- und Sozialarbeit, denen in der Vergangenheit die Bedürfnisse der Skinheads und rechter proletarischer Jugendlicher völlig egal waren, auf die mediengerecht aufgebauten Glatzen stürzen, ist höchstes Mißtrauen angesagt. Immer häufiger drängt sich der Verdacht auf, daß da in dem einen oder anderen Fall durch eine Allianz zwischen arbeitssuchenden Sozialarbeitern, freien Trägern und Neonazis Staatsknete abgezockt wird (immerhin stellte Ministerin Angela Merkel zwanzig Millionen Mark für Antigewaltprojekte in Aussicht, weitere fünfzig Millionen für den Aufbau freier Träger in den neuen Ländern). Gelegentlich mag es sich auch um schwerere Fälle naiver Nächstenliebe handeln.

In Einzelfällen mag das auf Sozialarbeit basierende „antirassistische“ Konzept sogar funktionieren. Rechtsradikale und Rassismus können damit allerdings nicht aus der Welt geschafft werden. Daß die Instrumente der Jugend- und Sozialarbeit weder Herrschaftsstrukturen noch den strukturellen Rassismus in Frage stellen, macht sie bei den politisch Verantwortlichen heute um so populärer.

Generell kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, daß man mit der Sozialpädagogisierung rechte Schläger schützt und ihnen die moralische Zuschreibung individueller Verantwortung erspart. Eine fatale Praxis, die nicht eben zur Vermittlung moralischer Standards menschlichen Zusammenlebens beiträgt und die als mißverstandene Sozialarbeit in der schlechten Tradition des großen Friedens mit den Tätern nach 1945 steht.

Mitte Mai erscheint von Eberhard Seidel-Pielen und Klaus Farin das Buch Rechtsruck · Rassismus im neuen Deutschland, Rotbuch-Verlag Berlin, 160 Seiten, 15 DM.