Von der Kernenergetik zur Kernethik

Die Atomlobby sucht auf ihrer Jahrestagung Trost bei Psychologen und Theologen/ Das Fußvolk erträgt die Aufschwung-Rhetorik der Vorsteher nur noch murrend/ Renaissance läßt auf sich warten  ■ Von Gerd Rosenkranz

Karlsruhe (taz) — Aliki van Heek ist zuversichtlich, ihre Doktorarbeit noch in diesem Herbst abschließen zu können. Promotionsziel der jungen Diplomingenieurin vom Forschungszentrum Jülich ist die Entwicklung eines „Hochtemperatur- Modulreaktors mit maximierter Leistung“. Dafür soll der ringförmig um einen mächtigen Graphitzylinder angeordnete Reaktorkern sorgen. Die atomare Kettenreaktion wird dann immerhin 350 statt 200 Megawatt erzeugen — nicht in Wirklichkeit, aber in den Simulationsprogrammen der Jülicher Rechenanlagen.

Alikis „Ringcore“ hat kaum Chancen auf Realisierung. Aber das macht nichts. Denn der nukleare „Konzeptstau“ bremst international mittlerweile ein gutes Dutzend „revolutionärer“ Reaktorideen. Die Arbeit für die Schublade ist in der Branche längst zur Regel geworden. Schon der 200-Megawatt-Modul- Reaktor, auf dem die „Ringcore“- Vorstellung aufbaut, endete als Papiertiger. Eine Prototypanlage ist weltweit nicht in Sicht, seit auch die vormals interessierten Russen ganz andere Sorgen umtreiben.

Claus Berke ist optimistisch. „Hat die Kernenergiewirtschaft eine Chance, wieder aktiv zu werden?“ fragt der Präsident des „Deutschen Atomforums“ und gibt gleich selbst die Antwort: „Ich glaube, ja.“ Zum Beleg führt Berke, wie in jedem Jahr, die jüngsten Umfragen ins Feld. Danach würde sich ein Drittel der Bundesbürger mit neuen Atomkraftwerken abfinden, ein Drittel vertritt die offizielle SPD-Linie, möchte die existierenden Meiler also nicht sofort abschalten, sondern schrittweise auslaufen lassen, und ein Drittel will den Ausstieg so bald als möglich. Macht nach „Adam“ Berke zwei Drittel AKW-Befürworter. Die Rechnung ist zwar sichtlich geschönt, das stört aber bei einer „Jahrestagung Kerntechnik“ niemanden.

Für die Protagonisten der Branche ist klar: „Die Einsicht in das Notwendige“ wird weltweit und schließlich auch in Deutschland die Renaissance der Atomkraft einleiten. Der globale Treibhauseffekt wird's schon richten. Minister Töpfers CO2-Reduktionsziel wird mit jedem Tag des Nichtstuns mehr zu einem Argument für die „CO2-freie“ Atomkraft. Doch die simple Frage, welchen Beitrag AKWs im globalen Maßstab zur Klimarettung leisten können, quittiert Berke, der das Argument seit Jahren propagiert, mit einem verlegenen Lachen. Der Beitrag sei „wesentlich“, doch „quantifizieren“ könne er ihn nicht.

Die Atomzunft präsentierte sich bei ihrer „Jahrestagung Kerntechnik“ als Branche im Dauerwartestand. Besorgt über die morschen Meiler im Osten, hoffend auf neue Reaktorprojekte nach der nächsten Bundestagswahl. Die Warterei treibt mitunter merkwürdige Blüten: In Karlsruhe erhofften die Kerntechniker Trost und Beistand von Pädagogen, Soziologen, Psychologen und sogar Theologen. Die fabulierten einen langen Vormittag über die Geschichte der Technikkritik, „Kommunikationsprobleme bei der Vermittlung technischer Sachverhalte“, den „Umgang mit Unsicherheiten“ oder die „ethische Rechtfertigungsfähigkeit“ der Nutzung der Atomenergie. Wie allerdings das Publikum zu überzeugen sei, wußten auch sie nicht zu sagen. Atomenergie, postulierte der Münchner Diplomtheologe Stefan Feldhaus, sei ethisch vertretbar, weil sich das mit ihrer Nutzung verbundene Gesamtrisiko als kleiner erweise als das anderer Energiestrategien. Nun komme es nur noch darauf an, daß die Menschen bei ihrer alltäglichen „Güter- und Übelabwägung“ diesen Schluß nachvollziehen, indem ihnen die Alternativen drastisch vor Augen geführt werden. Nach dem Motto: Was bedeutet schon ein Tschernobyl gegen einen Staudammbruch. Die Atomzunft auf dem Weg von der Kernenergetik zur Kernethik.

Die von den Protagonisten der Branche angeschlagene Aufschwung-Rhetorik allerdings wird beim Fußvolk inzwischen nur noch murrend ertragen. Man sucht lieber nach den Schuldigen. Irgendwo müsse die Anti-AKW-Stimmung im Lande „schließlich herkommen“. Verantwortlich seien die Figuren von der SPD, die die „Kerntechnik politisch blockieren“, und natürlich die Meinungsbildner der Medien, die „rücksichtslos an den wissenschaftlichen Fakten vorbeiberichten“. Letzteres wurde ausgerechnet dem 'Bild der Wissenschaft‘-Journalisten Wolfgang Hess vorgeworfen, der doch zuvor in seinem Vortrag brav Schelte an atomkritischen Kollegen geübt hatte. Dietrich Schwarz von den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen sieht sich gar von der vornehmen 'Zeit‘ zensiert, weil die wenig Interesse an Betroffenenberichterstattung zeigte und einen (unverlangten) Beitrag des Professors in den Papierkorb warf. Selbst die Informationszentrale der Stromwirtschaft (IZE) kam nicht ungeschoren davon: Sie räume in ihrer Propaganda erneuerbaren Energien unverhältnismäßig viel Raum ein, maulte ein Siemens/KWU-Mann.

Aliki van Heets Aktenköfferchen ziert eine alte, fast vergessene Branchenweisheit: „Atomkraftgegner überwintern bei Dunkelheit mit kaltem Hintern“. Es hilft wohl beim überwintern in Jülich.