„Wir alle, die Zuschauer, sind mit ihren Liebhabern ihre Opfer“

■ Der Berliner Schriftsteller Franz Hessel beschreibt in den 20er Jahren, am Beginn ihrer Karriere, Marlene Dietrichs „geradezu unschuldige Art zu verführen“

Wie es auch den Wesen, die sie verkörpert, ergehen mag — und manche von ihnen müssen ihr frevelhaft lebendiges Dasein mit dem Tode büßen —, sie sind zunächst nicht gerade mitleiderregend. Wir alle, die Zuschauer, sind mit ihren Liebhabern ihre Opfer. Wir alle werden Objekte des allgemeinen Begehrens. Man denkt nicht sehr daran, wie ihnen selbst zumute ist. Dafür ist ihre Wirkung zu stark. Man hat nicht das Bedürfnis, sich in sie zu versetzen, man ist von ihnen besessen. Solch eine Frau wäre also ein „Vamp“? Ach nein. Der Vamp, aus dem Vampyr alter Sage ein spezifisch angelsächsischer Begriff geworden, bedeutet Frauen, die gewissermaßen aus Geschlechtsberuf und -bedürfnis den Männern das Lebensblut aussaugen. Dies Blut ist ihnen nötige Nahrung wie jenen altertümlichen Gespenstern, und es ist anzunehmen, daß die so mörderisch Bezeichneten wissen, was sie tun.

Bei den gefährlichen Frauen, wie sie Marlene Dietrich verkörpert, hat man nicht das Gefühl, daß sie es so böse meinen. Den bartsträubenden Kopf des Schulprofessors nimmt sie als muntere Lola aus dem Blauen Engel in mütterlich gütige Hände, tätschelt dem zärtlich Ergriffenen die Backe wie einem Kind, schaut mit bräutlichem Lächeln zu ihrem armen Opfer auf, als er die höchst Unwürdige zu seiner Ehefrau macht, und lächelt ihm seinen Traum vom reinen Glück zu. Am Morgen nach der ersten entscheidenden Nacht hat sie ihm den Kaffee eingeschenkt wie ein braves Hausmütterchen und ist ihm zuliebe ganz bürgerlich geworden. Und daß er dann langsam an ihr zugrunde geht, scheint ihr gar nicht angenehm zu sein, sie versucht allerlei, ihn zu ihrer Art Leben zu erziehen, aber schließlich läßt sich zu ihrem Schrecken die Katastrophe nicht vermeiden.

Für jeden hat die Gutmütige das Gesicht, das er braucht, für den Direktor und Zauberkünstler das kühl vertrauliche Kollegengesicht, für den anstürmenden Kapitän genau das, wonach er sich während der Seefahrt gesehnt hat, für den munter auftauchenden „Mazeppa“ mit seinem banalen Schick die zwinkernde Miene: „Na, wie wär's wieder mal?“ Sie ist kein bißchen dämonisch bemüht, alles geht wie von selber. Sie hat eine geradezu unschuldige Art zu verführen. Mag die Situation noch so bedenklich, mag ihr Kostüm noch so frech und herausfordernd sein, sie breitet über Kleid und Welt ihr holdes Lächeln. Darin ist nichts, was erobern oder erobert werden will. Es ist sanftmütig erregend und stillend zugleich. Es gilt nicht nur dem, den es trifft, so gut es auch für ihn paßt, es geht durch ihn hindurch, an ihm vorbei in die ganze Welt.

Mit diesem Lächeln hat Marlene Dietrich Europa und Amerika erobert. Es ist in einem göttlicher und gemeiner als das all ihrer Rivalinnen. Das Lächeln der Greta Garbo ist von gebrechlicher Zartheit, schmerzliches Mitleid erregt es auch, wenn die Trägerin glücklich zu sein scheint, es ist christlich, engelhaft; das Lächeln der Elisabeth Bergner ist jungfräulich einsam, das der Asta Nielsen tragisch verhängnisvoll. Marlene Dietrich kann lächeln wie ein Idol, wie die archaischen Griechengötter und dabei harmlos aussehen. Man kann ihrem Lächeln gar keinen Vorwurf machen. Es ist „nicht bös' gemeint“. Und kann doch ein ansaugendes Astarte-Lächeln sein, ein Ausdruck jener Venus vulgivaga, die — im Nebenberuf — Todesgöttin war.

Es kann banal sein, grandios banal wie die Worte der Lieder, welche die fesche Lola singt. Diese Worte und ihre Melodien sind die Erfindung eines Mannes, der die Ausdrucksmöglichkeiten unserer großen Berlinerin genial erfaßt hat, Friedrich Hollaender. Den berühmt gewordenen Refrain:

„Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe

eingestellt,

denn das ist meine Welt

und sonst gar nichts!

Das ist — was soll ich machen? —

meine Natur.

Ich kann halt lieben nur

und sonst gar nichts“

singt sie mit einer Gelassenheit, einer selbstverständlichen Nacktheit, die viel einfacher, eindeutiger und stärker ist als aller absichtliche „Sex- Appeal“. Hier bemüht sich das Geschlecht nicht anzulocken; es ist unbefangen dargeboten, vorhanden. H.H. Stuckenschmidt sagt in seiner Studie So wird heute gesungen von Marlene Dietrich, sie trage ihre Couplets mit „ernster Unverschämtheit“ vor und vollziehe die Abkehr von jedem überlieferten Kabarettstil. „Der Unterton, der hier entscheidet, ist auf eine erschütternde Art neu und für die Gegenwart bezeichnend. Vor ihm versagen alle ästhetischen und moralischen Maßstäbe. Der Begriff des ,Schönen‘ ist abgeschafft, verdrängt durch die fraglos kultische Betonung und Verherrlichung des Sexus.“ Das klingt etwas unerbittlich pathetisch, trifft aber wohl den Grund der großen Popularität, deren sich Marlene Dietrichs Stimme erfreut.

Um noch ein wenig die anderen zu zitieren: Max Brod hat in seiner Liebe im Film von ihr gesagt, sie wisse genau, daß ihre Sanftmut erst dann so richtig Männer und Frauen bezaubere, „wenn auch die Stimme aus tieferen Regionen zu kommen scheint, als es Stimmband oder Mund sind“. Und über ihre sichere und dabei sparsame Art, das Erotische anzudeuten, sagt er: „Wenn sie im Reitsitz auf dem Sessel sitzt, so ist das ein aufreizenderer, wilderer Aufruf der Sinne als die deutlichste Intimität... Wenn sie ganz leise, nur andeutend, den Schenkel hebt, dann vertritt diese einzige Bewegung eine ganze Orgie.“ Aber, muß ich hinzufügen, man hat den Eindruck, als ob sie — oder die, die sie darstellt — das eigentlich gar nicht merke oder wolle.

Und wie sich ihre Schönheit unbefangen solcher Bewegungen bedient, in sie eingekleidet ist wie in die Tingeltangelfetzen ihrer entblößenden Tracht, so bedient sich ihre Stimme gewisser fast heiser versoffen klingender Töne. Und wenn sie singt „Männer umschwirr'n mich wie Motten um das Licht“, dann kommt das Mot-tään mit einem langgezogenen Kehllaut heraus wie bei sanft gröhlenden Dienstmädchen oder wie bei den Sängerinnen, die in alter Zeit in den Nixengrotten-Etablissements der Berliner Friedrichstadt in ausgeschnittenen Flittern mit rosa oder hellblauen Schleifen im Haar, an ihren Achselbändern rückend, „Mut- täär, der Mann, der Mann, der Mann“ oder „Ich lass' mich nicht verfüh-rään“ vortrugen.

Von diesen Wesen, diesen armseligen, rührenden Geschöpfen führt ein wunderlicher Weg, eine kuriose Tradition bis zu unserem großen Star. Marlene Dietrich hat damit etwas Berlinischem Weltgeltung gegeben. Bei ihr klingt auch das heimische Patois [frz. für Volksmundart; d. Red], allerdings nur leise angedeutet, mit an. Es wird nicht unterstrichen, nicht Thema wie in dem Vortrag der in ihrer Art genialen Claire Waldoff, dessen Reize einem Nicht-Berliner oder gar Ausländer nur zum Teil zugänglich sind. Durch Marlene Dietrich bekommt auch dies Spezielle seine allgemeine Wirkung. Die Pariser und New Yorker verstehen, was sie berlinisch singt.

Der Text von Franz Hessel erschien in den 20er Jahren und ist seitdem nicht wieder verlegt worden.