Kohl als Strahlemann, SPD-Spitze als Kritikroutiniers

■ In Berlin redet der Kanzler Schönwetter herbei, im Bonner Bundestag gab's derweil eine Stellvertreterdebatte

Bonn/Berlin (taz) — „Aus der Phase des allgemeinen, jammervollen Geredes herauskommen“ — das war die eindeutige Intention, mit der sich Bundeskanzler Helmut Kohl gestern, erstmals in Berlin, den Fragen der Bundespressekonferenz stellte. Aufgeräumt, jovial, manchmal schon mit Entertainerqualitäten versuchte Kohl den Eindruck eines Kanzlers am Ende der Fahnenstange zu zerstreuen, indem er die aktuelle Krise klein- und das Lamento im Land großredete. „Machen Sie ein schön depressives Foto, das verkauft sich gut“, ermunterte er die Fotografen. Es sei ja, so der Kanzler, „eine Frage der Grundrechenarten“, aus der sich die Zukunftsfähigkeit seiner Regierung, sozusagen zwanglos, ergebe. „Was die Koalition betrifft, die Koalition ist natürlich stabil.“ Sie verfüge über eine komfortable Mehrheit, was sich auch durch die „unnötigen Turbulenzen“ der letzten Tage nicht geändert habe. Sie werde, so die Überzeugung des Kanzlers, „aus dem Tief herauskommen“, jetzt „machen wir wieder unsere Hausaufgaben“. Hierbei, so Kohl in Anspielung auf die bevorstehenden Gespräche mit der Opposition, bedürfe man keines „Nachhilfeunterrichtes von den Sozialdemokraten“. Zwar stehe sein Gesprächsangebot zu den Themen Maastricht-Vertrag und die Kompetenzen der Bundesländer, Asylrecht sowie zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern; doch seien dies ohnehin Themen, an denen auch die sozialdemokratischen Länder ein vitales Interesse hätten. Parteipolitische Gewinne, so ließ der Kanzler durchblicken, seien davon kaum zu erwarten.

Kohl präsentierte sich auch in Berlin, wo er zuvor pikanterweise den Teilnehmern des Deutschen Sparkassentages seine Sicht der Dinge dargelegt hatte, als Überzeugungsgegner einer großen Koalition. Er frage sich, wie manche jetzt auf die Idee kämen, ausgerechnet mit einer solchen Alternative „die Erosion des Parteiensystems“ aufzuhalten. Er jedenfalls halte das für nicht hilfreich und sei im übrigen bereits 1966 als Gegner der ersten großen Koalition aufgetreten. Seiner Ansicht nach gehe es einigen jetzt darum, die Regierung vorzuführen, damit sich dann „die Genossen mit dem Sauerstoffgerät“ als Nothelfer präsentieren könnten. Das Kalkül laufe dann auf die „geläuterte Ampelkoalition für 94“ hinaus. Kohl lacht: „Die Koalition bleibt, sie bekommt einen großen Schub, und sie gewinnt die nächste Wahl.“

Von dieser selbstgewissen Perspektive in die Niederungen des streikgeplagten Alltags herunterzukommen fällt auch Kohl nicht leicht. Während er zur Koalitionskrise fast mit selbstironischem Anflug kommentiert, herrscht er die englische Journalistin, die ihn nach den „sozialen Unruhen in Deutschland“ befragen möchte, barsch an: „Ich bitte Sie, wo haben wir denn soziale Unruhen? Einmal in 18 Jahren ein Streik, da tut man, als bricht die Welt zusammen.“ Kohl, der Krisengeschüttelte, wird auch dieses Tief aussitzen. Die Botschaft kommt an.

Am Nachmittag ergänzte in Bonn eine neuerliche Sternstunde des Parlaments den Kanzlerauftritt in Berlin. In einer aktuellen Stunde auf Wunsch der SPD stand die Handlungsfähigkeit der Regierung zur Debatte. Während die Reihen der SPD immerhin geschlossen wirkten, waren die Koalitionsabgeordneten, wahrscheinlich aus absichtsvoller Boshaftigkeit, nur in geringer Zahl angetreten.

Fast die gesamte Fraktionsspitze schickte die SPD ans Rednerpult. Hans-Ulrich Klose, Ingrid Matthäus-Maier, Wolfgang Thierse und Rudolf Dreßler wiederholten nicht nur, was wir seit Tagen oder Wochen von ihnen hören — sie sagten alle das gleiche, denn steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Die Frage, ob die Regierung handlungsunfähig sei, wurde von dieser Seite mit einem eindeutigen Ja beantwortet.

Die Koalitionsbank konterte einfallsreich. Zwar antworteten nur Rüttgers statt Schäuble, statt Kohl nur Bohl, aber der Tenor war klar: mit der SPD wär's auch nicht besser. Heillos zerstritten, drückt sie sich, wenn es ernst wird, nämlich vor den Gesprächen mit dem Kanzler. Nachdem der jeweilige Zustand gegenseitig so beschrieben war, ging's weiter in der Tagesordnung. Man kennt sich und erheitert sich bei derartigen Anlässen. Nur beim schwungvollen Beitrag von Werner Schulz (Bündnis 90/Grüne) sah Arbeitsminister Norbert Blüm manchmal so aus, als würde er nicht Löcher, sondern nachdenklich in die Luft gucken. Matthias Geis/Tissy Bruns