Die Ruhe nach dem Sturm

■ Nachdenkliches zur Nickelbrille: Jeffrey Lee Pierce und sein Gun Club spielten am vergangenen Mittwoch im Loft

Wer es im letzten Jahr versäumt hatte, Jeffrey Lee Pierce und seinen Gun Club zu sehen, durfte staunen: Nicht ein energiestrotzender Koloß kam am Mittwoch abend auf die Bühne des Lofts, sondern ein stiller Mann, der erst seine Nickelbrille zurechtrückte, bevor er sich die Gitarre umschnallte. Doch zunächst wurde die Geduld des Publikums, das trotz BVG-Streiks in ansehnlicher Zahl erschienen war, auf eine harte Probe gestellt. Über Gebühr arbeiteten The Vee Jays daran, ihr kunstvoll aufgebautes Horror-Image zu demontieren. Jedes Bandmitglied ein anderes Klischee, vom Rock 'n' Roller mit Schmalztolle bis zum sympathischen Jungen von nebenan, mühten sich die Bremer Lokalhelden, die den sechziger und siebziger Jahren entlehnten Drogen- und Gruselszenarien ihrer jüngst veröffentlichten Platte ...From the Shores of Count Orlok neu zu beleben. Viel Gerüttel und Gezerre an Verstärkern und Keyboard. Lediglich die Texte der vier verrieten eine gewisse (unfreiwillige) Selbsterkenntnis: »...the Vee- Jays had a bad show. She said: I know, you're a music man, but your mood is so damn low.«

Erheblich besserer Stimmung erfreute sich der Verein von Jeffrey Lee Pierce. Kid Congo lächelte so still in seine Gitarre hinein, als ob er jeden Akkord einzeln begrüßen wollte. Seine Heiterkeit bewahrte er über die ganzen siebzig Minuten — und verlor so keinen einzigen Tropfen Schweiß. Auch Pierce behielt seine Lederjacke an: Nichts lag ihm ferner, als Exzesse zu zelebrieren. Eher schien er beweisen zu wollen, daß sein Tremelo auch nach dem just (bei WSFA) erschienenen Alleingang durch die Blues- und Countrygeschichte so herzzerreißend klingt wie ehedem. Ohnehin präsentierte der Gun Club zunächst die jüngeren Veröffentlichungen, auf denen das Quartett in gesammelter Gemütsverfassung nach den Ursprüngen seines ehemaligen Garagensounds, nach verloren geglaubten Blues- und anderen Wurzeln sucht. Allenfalls zu gewichtigeren Passagen runzelte Pierce einmal die Stirn. Mag sein, daß er auf seine Augengläser Rücksicht nehmen mußte, die ihm beharrlich auf die Nasenspitze rutschten und hin und wieder abgewischt werden mußten.

Der erste Juchzer entglitt dem ehemaligen Kettentrinker und Blondie-Verehrer, als er zur Hymne Sex Beat anhob, mit der der Gun Club vor elf Jahren seine Legende begründete (und die dem Pop-Theoretiker Diederichsen dann hierzulande als Titel für seine Abrechnung mit der Achtziger-Generation diente). Fast schien es, als ob Pierce beim Vortrag der pathetischen Stücke von Mother Juno, der ersten Platte nach der Re- Union des Clubs 1987, endlich in Fahrt kommen wollte. Das passierte allerdings nur Romi Mori, die sich hinter ihren Haaren versteckte, als ob sie es leid wäre, stets nur als asiatische Schönheit neben Pierce betrachtet zu werden. Silbern blitzende Ringe lenkten statt dessen den Blick auf ihre Finger: Immer flinker bearbeitete Mori den Baß, schwenkte ihr Instrument hin und her — von wegen, kleine Frauen verschwinden hinter schweren Klangkörpern! Von ihrer Stimme allerdings, die auf Divinity so schön zum Einsatz kommt, war wenig zu hören.

Pierce hatte mittlerweile sein Understatement zurückgewonnen. So schonte er das Publikum, das spätestens nach Sex Beat unglücklichen Verzerrungen in den oberen Stimmlagen ausgesetzt war, und ließ den Abend so ruhig ausklingen, wie er ihn begonnen hatte. Freundlich gestimmte Grüppchen bildeten anschließend Mitfahrgelegenheiten heimwärts in die Bezirke. Claudia Wahjudi