Theater auf engstem Raum

■ »Verkommenes Ufer — Medeamaterial« von Heiner Müller im Freien Schauspiel Neukölln

Der Raum des Kellergewölbes in der Pflügerstraße liegt im Dunkel. Der Eingang ist mit durchsichtiger Plastikfolie verhangen, die Wände damit abgespannt. Nur ein Scheinwerfer, der auf eine Schauspielerin gerichtet ist, macht ein bißchen Licht, und man hat Mühe, sich zu einem Stuhl in den engen Reihen durchzuschieben. Etwa zwanzig Leute finden Platz, dicht aneinandergedrückt, die Luft ist stickig, die Atmosphäre beklemmend.

Medea hockt auf einem Baumstumpf. Sie verteilt mit langsamen, ruhigen Bewegungen weiße Schminke auf ihrem Gesicht. Laute penetrante Musik setzt ein, zu der sich die drei Darsteller Medea, Jason und Mimin pantomimisch bewegen. Das klassische Dreiecksverhältnis: ein Mann zwischen zwei Frauen; der ehemaligen, Geliebte von einst, und der neuen, jüngeren, Gefährtin künftiger Zeiten. Die Musik nervt und will nicht aufhören, die Bewegungen werden eckiger, unkontrollierter, verzweifelter. Plötzlich Ruhe und absolutes Dunkel, und im wiederkommenden Licht beginnt Medea ihre Geschichte zu erzählen. Es ist die altbekannte Geschichte einer Frau, die bedingungslos geliebt und dafür geopfert hat und deren Liebe in leidenschaftlichen Haß umschlägt.

»Heute ist Zahltag, Jason, und ich treibe meine Schulden ein.« Christine Ast baut ihre Figur auf der klaren knappen Sprache Heiner Müllers auf. Noch einmal durchlebt sie ihre Geschichte. Sehr schön die Szene, in der die Darstellerin der Mimin, Désirée Angersbach, Medeas Rolle übernimmt, den Verrat von damals wortlos spielt und Medea von außen auf ihr eigenes Ich schaut. Nur mit einem Kittel bekleidet, die nackten Füße in roten Lackpumps — ein Relikt aus besseren Zeiten —, versucht Medea, ihr Schicksal zu begreifen. Im Wechsel von konzentrierter Spannung und losgelassener Emotion macht die Schauspielerin die Widersprüchlichkeit der Figur deutlich. In ihrer Verzeiflung greift Medea zu barbarischen Mitteln. Sie schlachtet ihre Kinder, indem sie die Hände um zwei Gummipuppen krallt und diese hoch über ihrem Kopf an der rauhen Decke entlangschleift, bevor sie sie brutal auseinanderfetzt.

In diesem stickigen Kellerkessel spielt sich alles nur wenige Schritte vom Publikum entfernt ab. Die Inszenierung (Regie: Thomas Borgemeyer) setzt auf die körperliche Nähe zwischen Darsteller und Zuschauer, aber gerade diese Nähe macht es den Schauspielern schwer. Die Bilder gehen hier nicht auf, bräuchten einen anderen, einen größeren Raum.

Im zweiten Teil wird das offensichtlich. Jason, gespielt von Süleyman Boyraz, kämpft sich durch eine leere, zerstörte Landschaft. Ein Mann, ein blinder Krieger nach dem Kampf. Einer, der alles verloren hat, ohne Ausweg — am Ende. Heiner Müller verläßt hier den Medeamythos und setzt die Geschichte als Menschheitsgeschichte fort. Jason, oder wen auch immer man darin sieht, hat alle Chancen verspielt. Keine Hoffnung, keine Zukunft. Am Schluß Dunkel, nichts. Leider ist das Spiel des Jason nicht zu verfolgen. Die Regie läßt große Teile des Monologs im Tonnengewölbe an der hinteren Wand spielen, das die Hälfte der Zuschauer nicht einsehen können. Damit wird die Szene zum Hörspiel, die philosophische Botschaft bleibt unverständlich — bestenfalls allgemein.

Der Abend hat viele spannungsvolle schauspielerische Momente. Es bleibt allerdings die Frage, ob die in ihrer Kargheit gewaltige Sprache von Heiner Müller unbedingt noch so gewaltig bebildert werden muß. Oder: ob man in diesem Raum überhaupt Theater spielen sollte. Sibylle Burkert

Heute, 14.5., 16.-18.5., 21.-23.5., 25.-28.5.; 21 Uhr im Freien Schauspiel Neukölln, Pflügerstraße 3