ROBERT ANTON WILSON ÜBER DEN IRRATIONALEN RATIONALISMUS IM UMGANG MIT UNERKLÄRLICHEM

Die neue Inquisition

Im Oktober 1981 kehrt eine Gruppe englischer Touristen aus Fatima zurück, einem Wallfahrtsort in Portugal, wo 1919 über 30.000 Pilger die Erscheinung eines himmlischen Lichts gesehen hatten. Auf der Rückfahrt geriet der Busfahrer in Trance: seine Hände sollen sich gefaltet haben wie zum Gebet und der Bus alleine, mit unverminderter Geschwindigkeit weitergefahren sein, ohne von der Straße abzukommen. Nach etwa 20 Meilen Fahrt sagte eine Stimme: „Ich bin Euer Bruder, der Erzengel Michael. Gott, der himmlische Vater, beschloß, euren Glauben zu prüfen, indem er selbst das Steuer des Busses übernahm.“ Alle 54 Fahrgäste des Busses, berichtet die Zeitung 'Daily News‘, unterzeichneten eine Erklärung, daß sich der Vorfall genau so abgespielt habe. Sind sie einem trickreichen Busfahrer auf den Leim gegangen, einem Bauchredner mit Engelstimme?

Am 11. November 1979 berichtet die angesehene englische Tageszeitung 'Guardian‘ über einen Vorfall in der Stadt Castleton: vier Häuser wurden mit Lebensmitteln überschüttet — aus heiterem Himmel landeten Blutwurst, Eier, Schinken und Tomaten auf den Dächern. Die Polizei glaubte an einen gewitzten Hobbyflieger und richtete Patrouillen ein — doch die Lebensmittel fielen noch mehrmals vom Himmel, tonnenweise, ohne daß auch nur die Spur eines Flugzeugs entdeckt wurde. Die Untersuchung von Lebensmitteldiebstählen oder ungewöhlichen Großeinkäufen verlief ebenfalls ergebnislos. Experten versuchten, das Rätsel mit einem Wirbelwind zu erklären, der die Lebensmittel irgendwo aufgesaugt und über Castleton abgeladen hätte — doch nirgends wurde ein Gemüsehändler ausfindig gemacht, dem etwa zentnerweise Tomaten abgesaugt worden wären.

September 1982. Das amerikanische 'Omni‘-Magazin berichtet von einer Studie über 440 mysteriöse Autounfälle. Zwei Merkmale trafen auf alle diese Unfälle zu: jedesmal hatten die Fahrer seltsame Lichterscheinungen am Himmel bemerkt und die Motoren der Wagen wurden auf geheimnisvolle Weise funktionsuntüchtig. Zahlreiche der Fahrer bezeichneten die Himmelslichter in ihren Aussagen als fliegende Untertassen.

Was halten sie von solchen Geschichten? Wie würden sie reagieren, wenn ein vertrauenswürdiger Bekannter auf einer Party erzählt, er habe genau so etwas erlebt — völlig nüchtern, am hellichten Tagen und vor seinen eigenen Augen? Halten sie es für wahr — auch wenn der normale Menschenverstand keine Erklärung für derlei Phänomene hat — oder halten sie die Geschichte für falsch und ihren Bekannten für das bedauernswerte Opfer einer geistigen Verwirrung ? Wie auch immer — der Party wird der Gesprächsstoff an diesem Abend nicht ausgehen, es sei denn, es befinden sich einige Mitglieder der „Zitadelle“ unter den Gästen. Als Angehörige der Zitadelle bezeichnet der Psychologe Robert Anton Wilson in seinem neuen Buch jenen weitverbreiteten Typus von Intellektuellen und Wissenschaftlern, der sofort weiß, daß Geschichten wie diese falsch sein müssen, weil sie mit den bekannten Naturgesetzen unvereinbar sind. Auf ihren aufgeklärten Skeptizismus halten sich die Mitglieder des wissenschaftlichen Establishments viel zugute — Wilson unterdessen zeigt in diesem Buch, daß diese gesunde Skepsis längst in einen blinden Glauben an die Absolutheit der Naturgesetze umgeschlagen ist — und sich in aggressivem Dogmatismus gegenüber allem Unerklärlichen äußert:

„Wenn eine Reihe kluger Köpfe auf der Suche nach Gewißheit ist, dann nicht, weil es irgendeine philosophische Rechtfertigung dafür gäbe, sondern weil diese ein emotinales Bedürfnis nach Gewißheit haben. Dieses Buch ist eine Art Expedition in das philosophische Unbewußte, in das die materialistische Gesellschaft ihre verdrängten Phantasien und Ängste zu versenken pflegt. Ich werde ihnen gebildete Männer vorstellen, die sich wie ein fanatischer Lynch-Mob in Mississippi aufführen; hochgeachtete Wissenschaftler, die sich zusammentun, um abweichende Meinungen zu unterdrücken; Philosophen, die sich gebärden wie Zirkusclowns oder Fußball-Rowdies. Ich werde ihnen von Zeichen und Wundern am Himmel erzählen, die nur in den seltensten Fällen konventionell genug sind, um mit UFOs verwechselt zu werden. Und von einem Mann, der aus einer nicht vorhandenen Energie einen Regensturm erzeugte, ehe die Wächter der Vernunft seine Bücher verbrannten und ihn ins Gefängnis warfen.“

Dieser Mann war der Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich, ein Schüler von Sigmund Freud, der behauptete, daß die Freudsche Therapie nicht von selbst heile, sondern durch das, was heute als „Körperarbeit“ bekannt ist, ergänzt werden müsse — Entspannungstechniken, Atem- und Muskelübungen. Außerdem behauptete er, eine unbekannte Art von Lebensenergie entdeckt zu haben, die er Orgon nannte und der er eminente Bedeutung zusprach für das Wohlbefinden nicht nur des Körpers, sondern der gesamten Natur. Vor den Nazis war Reich nach USA geflüchtet, doch als er in den 50er Jahren begann, mit seinen merkwürdigen Orgon-Apparaturen Regen zu machen, wurde sein Institut von Polizeiagenten gestürmt, sämtliche Schriften beschlagnahmt und verbrannt, die Laborausrüstung mit der Axt zerschlagen und Reich ins Gefängnis geworfen, wo er nach wenigen Monaten starb. Hätte Reich seine mysteriöse Geschichte auf einer Party erzählt, er hätte höchstens ein paar höhnische Witzchen geerntet, so aber forderte er die Zitadelle auf ihrem ureigensten Feld, der Wissenschaft, heraus — und wurde eiskalt erledigt, ohne daß seine Experimente überprüft, seine Ideen widerlegt worden wären. Reich wurde ein klassisches Opfer dessen, was Wilson die „neue Inquisition“ nennt: die Unterdrückungs- und Einschüchterungsverfahren des Wissenschaftsbetriebs, die sich zwar in den Umgangsformen, nicht aber in der Geisteshaltung vom finsteren Mittelalter unterscheiden. Viele moderne Skeptiker, so Wilson, sind gegenüber der eigenen Skepsis unskeptisch geworden, empfinden alles Ungewöhnliche als Bedrohung und verteidigen starrsinnig ihre Reviere. Nicht nur gegen Bioenergetiker wie Reich, auch gegen Forscher wie Immanuel Velikovsy, der es wagte, mit der These einer durch Katastrophen unterbrochenen Evolution den Darwinismus in Frage zu stellen, oder gegen den Biologen Rupert Sheldrake, der statt starrer Naturgesetze ein dynamisches „Gedächtnis der Natur“ postulierte — worauf das angesehene Wissenschaftsjournal 'Nature‘ aufrief, seine Bücher „auf den Scheiterhaufen“ zu werfen.

Fundamentalismus, so zeigt dieses lehrreiche und amüsante Buch, ist keine Spezialität graubärtiger Finsterlinge aus dem Morgenland — was für einen Ajatollah der Koran ist, ist für die Denkpolizei der wissenschaftlichen Gemeinde der mechanische Materialismus — ein unerschütterliches Glaubensgut. Die Geisterjäger, die vor 300 Jahren auszogen, der Welt den Aberglauben auszutreiben, sind vom Beelzebub erwischt worden: der hartnäckigen Illusion, mit ewigen Naturgesetzen das gesamte Universum erklären zu können. Unerklärliches darf in diesem Realitätstunnel nicht vorkommen — es muß wegerklärt werden, am besten mit einem apodiktischen „Unmöglich“.

Für straighte Skeptiker und Rationalisten sollte Robert Anton Wilsons Neue Inquisition Pflichtlektüre werden: um Skepsis auch gegenüber der eigenen Skepsis aufzubringen. Da dies bei eingefleischten Dogmatikern erfahrungsgemäß Jahrhunderte dauern kann, sei allen anderen solange mit dem irischen Sprichwort geraten, das der Autor seinem Buch vorangestellt hat:

„Wenn du einem zweiköpfigen Schwein begegnest, halt' den Mund.“ Mathias Bröckers

Robert A. Wilson: Die neue Inquisition — Irrationaler Rationalismus und die Zitadelle der Wissenschaft , Verlag Zweitausendeins, 320 Seiten, 28 DM