Ilse Werner, die im Stau steht

■ Signierstunde bei Horten: Ansteigende Fieberkurve in der Buchabteilung oder Ein vergangener Star und seine bleibende Gemeinde

Da sind sie ja alle. Da: zwischen den Bücherregalen. Die mit den wohlondulierten stillen Köpfen. Graue alte Damen. Ab und zu blättert eine in einem uninteressanten Buch, damit niemand merkt, wie sehnlich hier gewartet wird.Es ist vier Uhr am Nachmittag, und wer jetzt Zeit hat, hat Glück: Ilse Werner kann jeden Augenblick kommen! Auf dem kleinen Signier-Podest türmt sich bereits die Werner'sche Autobiographie zu 36.- Mark. Noch ahnt keine von der bevorstehenden Schicksalsgemeinschaft. Obwohl sie, streng genommen, eben deswegen gekommen sind: Wegen ihrer Ilse — ganzer Stolz in dunkler Zeit. Ein verbündetes Ideal. Wenn die Werner winkte, dann wurde aus dem Kino eine Höhle mit Sternen. Und vergessen waren bombenverhagelte Höllennächte. Gott, hatte die Frau eine Wespentaille!

Und Charme!! Auja: Charme! Die Damen werden miteinander warm. Fast gegen ihren Willen. Eigentlich redet man nicht mit Fremden. Aber die Neugierde der Reporterin löst ja doch die Zunge und die Erinnerung. Alle, ach alle Filme hat die mit den müden Augen gesehen. Die Ilse, die kam bei ihr noch vor der Zarah und der Marikka, den andern UFA-Stars, weil sie nicht nur natürlich war, sondern überhaupt eine Persönlichkeit. Was heißt denn das: Durchhaltefilme?? Wo hätte man denn bleiben sollen ohne Trost und Frohsinn? Die Werner, was sollte sie anderes machen als durchkommen wie sie alle?

Es ist viertel nach vier. Die schütteren Reihen ums Podestchen werden dichter. Pocketkameras werden in Knips-Bereitschaft gebracht, einige recken dramaturgisch den Hals. Der unsichtbar abgestellte Kaufhaus- Angestellte registriert richtig aufkommende Unruhe, wippt nach vorne und gibt preis: Frau Werner steckt im Stau. Bedenken Sie, ruft der herbeieilende Geschäftsführer, bei der Wärme, und dann im Auto! Die Arme! Und fährt selbst. Wo steht sie denn? Bei Grundbergsee ist sie abgefahren. Ah, das kann dauern. Und alles wegen dem Streik! Und den Bremer Verkehrsverhältnissen! Endlich kommt man sich näher und wird gleich lebhaft: Wo überhaupt noch alles hinführen soll! Kaum traut man sich ja noch aus dem Haus mit Garten! Der Nachbarin ist neulich die Tasche entrissen worden! Enthemmt zeigt man sich Portemonnaie-Verstecke in verwegenen Körperregionen. Das hat etwas Verbotenes an sich, weil blitzschnell zu zeigen ist, was doch keiner sehen darf. Gehen die Damen auch sonst Autogramme jagen? Naja, jagen. Die kleine Rotbackige mit dem Marlene-Jaschke-Einschlag gewinnt Vertrauen zur Presse: Prinzipiell sei sie für alles aufgeschlossen, speziell für Zirkus, zusammen mit ihrem Mann, das halte jung.

Fast hätte man schon die Zeit vergessen, wenn da nicht der Geschäftsführer wiederkäme und salopp die neue Losung bekanntgäbe: Mit des Geschickes Mächten, ist kein ew'ger Bund zu flechten — Frau Werner steht noch immer im Stau. Mittlerweile wird die Verspätung der Ilse Werner über Lautsprecher verbreitet, so daß nun schnöde Lungernde unser Träublein umkreisen und zusammenschweißen. Einige feinere Damen sind schon auf den Rand des Podests gesunken und starren umsäuberte Löcher in die Luft.

Es wird viertel vor fünf. Ob man nicht doch besser geht, solangs noch nicht zu spät ist? Ach nein, konnte denn jemand so pfeifen wie die Ilse Werner? Und geschenkt worden ist ihr auch nichts. Bei dem Ehemann! Was für einer eigentlich? Naja, ein Mann halt, ein komischer. Aber die Kollegen haben ihr ja soo geholfen. Und den Mut hat sie auch nie verloren. Daß sie ein bißchen ein Faß geworden ist und ganz ohne Taille, kann man ihr das vorwerfen? Und wer will schon so genau das Alter wissen? Auf die inneren Werte kommts doch an. Und echter Charme rostet nicht.

Hoffentlich hat sie Autogrammkarten dabei, und wehe, wenn fertiggeschriebene! Die jüngste unter den alten Damen darf gar nicht dran denken! Sonst hat sie schon ganz viele Autogramme mit Widmung, bloß bei der Maria Sebaldt neulich hat ihr keiner Bescheid gesagt. Hat sie sich beschwert, bei der Tombola, wo die Sebaldt gradezu heimlich Lose verkauft hat — während sie zu Hause saß, als wenn nichts wäre. Und was wären denn auch die Stars ohne sie, die kleine Blonde mit der braunen Umhängetasche aus Delmenhorst?

Der eine von zwei aufgeschlossenen Ehemännern kommt von seinem Rundgang zurück und schwärmt für Ilse Werner seit Anbeginn. Seine Frau schwärmt im Gegenzug für Walter Reyer, damit keine Eifersucht aufkommt. Warum er hier ist? Na, es hat doch eine Wirkung, so etwas. Welche? Vielleicht will man sehen, ob es das alles wirklich gibt, daß es kein Traum ist.

Ilse komm! Es ist zehn nach fünf. Neben mir eine im dunklen Mantel stützt sich schon über eine Stunde schwer auf ihren Stock. Warum? „Ich kenne Ilse Werner!“ Alle Herzen fliegen hoch: Sie kennt Ilse Werner! Ohja. Sie war Fotolaborantin bei der UFA und hat Ilse Werner schon entwickelt, als die noch keiner kannte. Eigenhändig fotografiert hängt zu Hause Hans Moser. Cutterin wollte sie werden; aber da hätte sie über Goebbels gemußt, also durch sein Bett: für seinen Harem war der ja berühmt. Das dann doch nicht.

Es ist halb sechs. Die Lautsprecherdame bittet gleichgültig um Verständnis, als ginge es um Wurst oder Käse; eine Abteilungsleiterin verteilt Kaffeegutscheine. Gottseidank gelten die auch noch morgen. Hier verläßt jetzt niemand mehr sein Fleckchen Kaufhauserde.

Es ist kurz nach halb sechs, die Lautsprecherin endlich jubiliert resolut: Ilse Werner ist soeben eingetroffen. Unsere Traube schießt zusammen. Taschen werden an den Körper gekettet. Da kommt SIE. Ist es die Möglichkeit! Und sogar noch ein bißchen zurechtgemacht. Aber doch ganz natürlich. Danke, daß sie da sind, tremoliert eine und schnappt nach der Hand, die Frau Werner herabläßt. Hach, gut sieht sie aus, bißchen voll vielleicht, auch mit Brille, aber sonst ganz wie früher.

Behende erklimmt Ilse Werner das Podest, hat keine Autogrammkarten und signiert nur ihr hier und jetzt erstandenes Buch. Das ist mein Auftrag, verkündet sie streng und ohne Einsehen und übersieht auch geflissentlich die alten Starfotos, die ihr bettelnd aufs Tischchen geschoben werden. Unmut kommt auf, die Hälfte hat ja gar kein Buch kaufen wollen oder können und soll nun unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Murmelnde Enttäuschung schwappt aufs Podest. Habt ihr im Stau gestanden oder ich??, donnert–s da von oben herab. Also fertig jetzt: Im jovial unterfütterten Kommando-Ton werden von Frau Werner unterschriftsreife Bücher geordert. Da ist endlich Ruhe, und das Signieren kann geordnet vonstatten gehen. Die meisten kaufen noch schnell das Buch, als wären sie ungehorsam gewesen. Claudia Kohlhase