Friedenstaube mit Plattfuß

■ Verpatzter Vorlauf zur 45. Friedensfahrt der Radamateure: Wo bitte geht's zum Start?

Charlottenburg. Selbst Gerhard Passow, immerhin Präsident des Berliner Radsportverbandes, wußte nicht weiter. Wann und wo der Startschuß zur 45. Friedensfahrt der Radamateure fällt? Keine Ahnung! Vorgesehen war der Prolog eigentlich für Freitag am Kurfürstendamm. Doch zwei Tage zuvor stand dieser Termin noch ernsthaft in Frage. Das hohe Fahrradaufkommen streikgeschädigter BVG-Dissidenten hatte dem angeblichen Großereignis den Platz und nicht zuletzt die Show gestohlen. Polizei und Organisationsleitung schauderten bei dem Gedanken, den McDonald's-Boulevard speziell für einen kleinen Pulk handverlesener Friedenspedaleure sperren zu müssen. Wo sollten sich dann die Opfer des Lohnkrieges die Lungen aus den leiblichen Hüllen strampeln?

Sinnentleertes Prestigeobjekt

Doch wenigstens hatten — wie so oft, wenn es darum geht, sinnentleerte Prestigeobjekte zu finanzieren — die Olympia GmbH und der Senat in ihre Kassen gegriffen und mit Fördergeldern die Existenz der traditionsreichen Friedensfahrt gesichert. Zum Dank versäumte es z.B. das Ausrichterland Polen, rechtzeitig ein wadenstarkes Team zu nominieren.

Kirmesattraktion ohne Radlermaß

Die Friedenstaube '92 leidet offensichtlich an einem kapitalen Plattfuß. Über Monate hinweg hielt sich die Veranstaltung nur durch Geldmangel in den Schlagzeilen. Kaum war sie monetär abgesichert, dann dies... Das einstige Pendant des sozialistischen Lagers zur westlichen Tour de France scheint zu einer einzigen Kirmesattraktion zu verkommen. Zu schlechter Letzt wurde dann doch am Freitag abend die 1,1 Kilometer lange Rundpiste entlang des Tauentzien und Ku'damm freigegeben für ein Feld der überwiegend Namenlosen. Das Radlermaß aller Dinge früherer Jahre, Star-Staatsamateure wie Olaf Ludwig, Jan Schur, Uwe Ampler oder ihre sozialistischen Spitzenbrüder aus dem übrigen Ostblock, waren nicht am Start. Statt dessen verstießen einige Nationen sogar gegen das Vermummungsverbot, indem sie zwar ihr Kommen zugesagt hatten, aber die Namen ihrer tatsächlich in die Eisen steigenden Cracks lange Zeit vorsorglich verschwiegen.

Weder wäßrige Augen noch Friedenstauben

Auch das noch: Anstelle der Politprominenz früherer Jahre, die — unter den wäßrigen Augen ergriffener FDJ-Hemden — werbewirksam malerische Picasso-Friedenstauben gen Himmel steigen ließen, lugten streunende Touris und unverbesserliche Radsportfans auf die chicen Fahrgestelle der Wadenarbeiter. Es lohnte sich, genau hinzuschauen. Denn das eigentliche Freitagsspektakel — das Mannschaftszeitfahren über 3,3 Kilometer — dauerte ganze fünf Minuten. Als bestes Team absolvierte der Holland-Dreier den Parcours, knapp dahinter ritt Deutschland in den Stall, gefolgt von der GUS-Vertretung.

Wo aber blieb Italiens Triumvirat, der amtierende Weltmeister in der Vierer-Mannschaftsverfolgung? Unter „ferner fuhren“ arrivierten die Südländer; vielleicht weil beim Prolog weder ein Gelbes Trikot für einen individuellen Spitzenreiter noch eine satte Siegprämie vergeben wurden: ganze 150 Mark durfte Holland einstreichen — wovon die galoppierende Inflation während der Fahrt einen Gutteil wieder aufgefressen hatte!

So also werden die besten Drahtesel auf fettere Prämien warten, immerhin endet der „Cours de la Paix“ erst am 17. Mai, nach neun Etappen, in der CSFR. Jenseits der hohen Berge der Erze und Riesen zwischen Sachsen und Böhmen wartet dann der süße Lohn auf den pazifistischen Single-Terminator '92 — ein Automobil namens Lada. Kostenpunkt: 10.000 Mark. Mehr ist der Friede den Sponsoren heuer nicht wert. Jürgen Schulz