Natürlich, die Unschuld verloren

■ Christoph Becker sprach mit Charles Neville über die Regeln des Radios, die enge Definition „schwarzer Musik“

Christoph Becker: Die Neville Brothers sind in Europa sehr erfolgreich. Sie haben für die letzten beiden Alben insgesamt sieben Gold- und Platinalben verliehen bekommen. In Amerika keine einzige. Woran liegt das?

Charles Neville: Wir werden nicht im Radio gespielt. Die Begründung ist sehr simpel. Der größte Teil der amerikanischen Bevölkerung erhält nicht einmal die Chance, ja oder nein zu sagen. Sie werden unserer Musik einfach nicht ausgesetzt. Totschweigen könnte man das nennen. Und so geht es nicht nur uns. Ein großer Teil amerikanischer Kultur wird totgeschwiegen.

Sprechen Sie von schwarzer Kultur?

Nein, nicht bloß schwarze Kultur. Jede Kultur, die aus dem Mainstream herausragt, die also akzeptierte Kultur in Frage stellt, die aufrüttelt, die nicht einfach zu konsumieren ist, wird von den Medien des Mainstream totgeschwiegen. Ich mache Musik, deshalb spreche ich darüber, denn dort kenne ich mich am besten aus: Indianische Musik, eingeborene amerikanische Musik also, existiert nicht im Bewußtsein Amerikas. Ich habe gerade mit einer Freundin aus Seattle, einer Anwältin in Indianerfragen, eine Platte produziert, die traditionelle indianische Musik mit Einflüssen aus dem Jazz vermischt. So habe ich ein wenig Einblick in die Probleme indianischer Kultur bekommen. Den Indianern Amerikas ist nicht nur ihr Land, ihre Identität, ihr Lebensraum genommen worden. Sie haben heute nicht einmal mehr die Möglichkeit, auf die Reste ihrer eigenständigen Kultur aufmerksam zu machen.

In New Orleans, der Stadt, in der ich geboren bin und lebe, überlappen sich verschiedene Kulturen. Ich erinnere mich noch an den letzten St. Patricks Day, an dem gleichzeitig eine irische, eine südamerikanische und eine französische Parade stattfand. Ein gutes Beispiel für die kulturelle Vielfalt von New Orleans. Dort vermischen sich die verschiedenen Musikformen, und es kommt schon beinahe traditionell zu etwas Neuem, Spannenden. Nicht zufällig entstand vor hundert Jahren in New Orleans der Jazz. Doch die aktuelle Musik aus New Orleans, ob es die Neville Brothers sind oder andere — kaum jemand hat eine Chance im Radio.

Werden zu wenig Radiosender von Schwarzen kontrolliert?

Es gib keine Sender, die von Schwarzen kontrolliert werden. Selbst eindeutig „schwarze“ Sender, in denen ausschließlich schwarze Musik gespielt wird, sind von Weißen kontrolliert, die mit schwarzer Musik ihr Geld verdienen. Der Trick ist alt: Es gibt ein paar populäre schwarze Moderatoren, Sportler, Stars, die in der Öffentlichkeit für die Offenheit des Systems stehen, doch das System ist weiterhin so undurchlässig wie schon immer. Dabei ist es natürlich nicht so, daß ich sagen würde, all die Besitzer und Programmspezialisten amerikanischer Radios sind Schweine. Natürlich haben sie ihre Untersuchungen, die beweisen, daß jenseits des Mainstreams oder der akzeptierten Ausnahmen, wie beispielsweise HipHop oder all die an HipHop angelehnten Formen aktueller Tanzmusik, keine andere Musik zu spielen möglich ist, da sonst die Einschaltquoten sinken. Das Problem liegt im System, es ist ein politisches Problem; das Radio ist bloß ein Spiegel.

Wer schreibt denn eindeutig schwarzen Sendern vor, von denen es ja eine Menge gibt in den USA, was sie zu spielen haben?

Der Computer. Als wir mit „Sister Rosa“, unserer Single vom Yellow Moon-Album erschienen, meinte unsere Plattenfirma, auf den Song würden schwarze Stationen abfahren. Aber: nein. Es wurde gesagt, unsere Musik passe nicht in das offiziell akzeptierte Format schwarzer Musik. Damit ist dann zumeist HipHop, Rap oder der sogenannte „Urban Pop“ gemeint: Whitney Houston, Michael Jackson, Keith Sweat. In den Augen der schwarzen Radiostationen machen wir also keine schwarze Musik. Jim Hendrix, John Lee Hooker, B.B. King — alles keine schwarze Musik.

Das Mainstream Radio, und dazu zähle ich auch die meisten schwarzen Sender, hat den Anspruch, jederzeit einem möglichst großen Hörerkreis ein möglichst angenehmes Hören zu bieten. Den Anspruch erfüllt es spielend. Denn nach einer Stunde Radio meint man doch bloß einen Song gehört zu haben, und den hat man auch schon wieder vergessen. Man kann mit dem Wagen von der Westküste quer durchs Land nach Osten fahren, ständig Radio hören, und am Ende hat man doch ein Stück gehört. Das ist Mainstream-Radio.

Bisher haben Sie auf Ihren Platten wenig Kompromisse in Richtung Mainstream gemacht. Die vertrackten, synkopischen Rhythmen waren das Markenzeichen der Neville Brothers. Ihr neues Album „Family Groove“ klingt nun sehr kommerziell und glattgebügelt. Ist das Ihr Tribut an den Mainstream?

Als Antwort erzähle ich eine kleine Geschichte: Vor einem guten Jahr waren wir in Israel auf Tour. Dort besuchte uns unser Manager, der legendäre Konzertpromoter Bill Graham, der unglücklicherweise kurz darauf bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen ist. Eines Abends nahm uns Bill Graham beiseite und sagte: „Ihr Brüder habt all den Respekt von Musikerkollegen, Kritikern und eurem Publikum gewonnen. Ihr habt alle Ehrungen erhalten, die es im Musikgeschäft zu erlangen gibt. Nun ist es an der Zeit, einmal eine Hitplatte zu machen und das Geld zu verdienen, das Euch zusteht. Das soll Eure nächste Platte sein.“ So entstand Family Groove. Dies soll nicht heißen, daß wir uns aufgegeben haben. Wir trafen Hawk Wolinski, der schon mit Rufus & Chaka Khan gearbeitet hatte und dort beseelte Musik geschaffen hat, die aber trotzdem absolut modern klang. Also haben wir Hawk als Produzent für unsere Platte verpflichtet.

Doch Hawk hat uns über einige Aspekte des Geschäftes mit der Musik, speziell was das Radio anbelangt, die Augen geöffnet: Es kommt nicht auf die Art des Songs oder die Musik an, sondern der spezielle Sound der jeweiligen Radiostation muß getroffen werden, um gespielt zu werden. Stationen haben bestimmte Frequenzen zu finden, mit denen man möglichst viele Stationen abdecken kann. Früher haben wir an so etwas gar nicht gedacht. Dieses Mal haben wir zunächst unsere Songs aufgenommen und dann in einem zweiten Schritt all die Keyboards und Gitarren eingespielt, um die verschiedenen Frequenzen abzudecken, mit denen man die Geschmäcker der verschiedenen Radiostationen trifft. Außerdem haben wir unsere übliche Synkopierung des Rhythmus' ausgeblendet und einen durchgängigen Beat unterlegt.

Aber genau das hat doch immer die Neville Brothers ausgemacht.

Es ist nunmal ein verdammtes Spiel mit dem Radio. Qualität zählt nicht. Die Gründe für Erfolge liegen anderswo. Einer ist beispielsweise: Ein Song muß schon einmal ein Hit gewesen sein. Deshalb haben wir für unsere Single Fly Like An Eagle von Steve Miller ausgewählt. Aus einem alten Hit wird ein neuer Hit; eine einfache Philosophie.

Macht Ihnen da Musik noch Freude? Die Unschuld ist doch verloren.

Musik ist mein Lebensinhalt, der Lebensinhalt für uns vier Brüder. Doch es geht um mehr als um Freude. Musik ist immer auch ein Statement. Musik reflektiert das Leben, das Leben in Amerika — und natürlich, die Unschuld ist verloren. Doch genau darum geht es in schwarzer Musik, im Blues, im Soul, im Jazz. Die Unschuld ist verloren, das Leben ist verdammt nochmal nicht einfach; und darüber kann man klagen und man kann gleichzeitig tanzen. Unsere Rhythmen, die Synkopen, diese pulsierenden, komplexen Beats stammen ursprünglich ab von der Musik afrikanischer Voodoo-Zeremonien. Genau wie karibische, brasilianische, haitianische Musik, deren Einflüsse sich in New Orleans wiederfinden, übertragen von Verschleppten, Flüchtlingen, Siedlern. Mit der Musik, mit den Rhythmen bringt man die Menschen zum Tanzen. Und mit ihrem Tanz werden die Geister gerufen. Das ist immer noch so. Und wenn wir in unserem alten Club „Tipitina‘s“ in New Orleans spielen, dann kann man die Geister auch noch spüren. Daran kann keine Platte, kein Radio etwas ändern.