SPD zwängt sich an Teufels Seite

Die große Koalition in Baden-Württemberg ist so gut wie perfekt/ SPD macht große Zugeständnisse/ Formelkompromisse bei Asyl und Energiepolitik/ AKW Obrigheim bleibt am Netz  ■ Aus Stuttgart Dietrich Willier

Worüber in Bonn derzeit noch heftig spekuliert wird, ist im baden-württembergischen Musterländle jetzt beschlossene Sache: die große Koalition. Zehn Tage lang hatten sich die beiden Parteien zur Klausur in der Residenz des Ministerpräsidenten Erwin Teufel verbarrikadiert; am vergangenen Samstag wurde dann die baden-württembergische Landespresse über die wesentlichen Koalitionsvereinbarungen unterrichtet. „Das Fundament steht“, so der Ministerpräsident, „das Haus muß in den kommenden vier Jahren errichtet werden.“ In der kommenden Woche soll noch die Zuständigkeit künftiger Ministerien und deren Besetzung verhandelt und der gemeinsame Fahrplan im Bundesrat festgelegt werden. Ende Mai müssen noch die Landesparteitage von SPD und CDU zustimmen.

Das dürfte zumindest der SPD- Basis nicht ganz leichtfallen. Zahlreiche, bisher unverzichtbare Forderungen der Partei sind in den Koalitionsvereinbarungen gar nicht enthalten. Beim Streit um den Abtreibungsparagraphen 218 etwa hofft der SPD- Landesvorsitzende Dieter Spöri auf ein neues Bundesrecht, das dann selbstverständlich auch in Baden- Württemberg gelte. In anderen Streitpunkten, etwa der Energie- oder Ausländerpolitik, wird die SPD-Basis künftig mit interpretierbaren Formelkompromissen leben müssen. Von einer von der SPD seit Jahren geforderten Stillegung des ältesten deutschen Atommeilers in Obrigheim ist in den Koalitionsvereinbarungen nicht mehr die Rede. Rechtlich, so das Papier, sei die Landesregierung sowieso an die Vorgaben des Bundesatomgesetzes gebunden, und serienreife Alternativen in ausreichendem Maße stünden nicht zur Verfügung.

Auch von einem Verzicht auf eine zentrale Sondermüllverbrennungsanlage in Kehl am Rhein wird nicht mehr gesprochen. Zwar soll das laufende Planfeststellungsverfahren dort erst einmal ausgesetzt und neue Standorte in „grenznahen Regionen“ geprüft werden, eine Entscheidung gegen den Standort Kehl ist aber noch keinesfalls getroffen.

Reichlich sybillinisch mutet auch eine Koalitionsvereinbarung zum Thema Asyl an. Zwar soll das Individualrecht auf Asyl und der Grundrechtsartikel 16 nicht angetastet werden. „Asylbewerber aber“, so die spitzfindige Formel der Stuttgarter Koalitionäre, „die in einem der europäischen Vertragsstaaten einen vorläufigen, sicheren Aufenthalt gefunden haben, sollen ohne Individualverfahren mit vorläufigem Bleiberecht zurückgewiesen werden können“. Ihnen, so der Vertragstext, stünde schließlich „ein Verfahren nach dem einheitlichen europäischen Asylrecht offen“. Nur eben das gibt es noch nicht. Und ob es dazu kommen wird, solange die Bundesrepublik am Wortlaut ihres eigenen Asylrechts festhält, ist wenig wahrscheinlich.

Auch bei der angestrebten Umsetzung der Stuttgarter Beschlüsse zur baden-württembergischen Wohnungspolitik liegen die Stolpersteine schon auf dem Weg. Das Land, so die Feststellung der Koalitionäre, brauche in den kommenden vier Jahren mindestens 280.000 Wohnungen. 100.000 davon sollen als Sozialwohnungen durch die Landesregierung gefördert werden. Aber womit? Schließlich hatte man sich, vor allem auf Initiative der SPD, auf ein rigoroses Sparprogramm für die kommenden vier Jahre geeinigt und alle Koalitionsvereinbarungen unter einen strengen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Für zusätzliche Vorhaben, heißt es da, seien für die Haushaltsjahre 1993 und 1994 gerade mal 200 Millionen oder ein halbes Prozent des gesamten Staatshaushalts vorgesehen. Würden die allesamt in den sozialen Wohnungsbau gesteckt, beliefe sich die staatliche Förderung einer Sozialwohnung gerade mal auf 2.000 DM. Für eine bessere Besoldung baden-württembergischer Polizisten und die zusätzliche Einstellung von Lehrern, wie sie vor der Wahl die SPD noch vehement forderte, bliebe kein Pfennig.

Beobachter der Koalitionsverhandlungen im Stuttgarter Staatsministerium hatten gleichwohl von einem ausgezeichneten und vertrauensvollen Verhandlungsklima berichtet. Die Ergebnisse aber bestünden mehrheitlich in faulen Kompromissen, und von einer Reformkoalition zu sprechen, wie die SPD, sei schlicht Larifari. Erwin Teufel gab sich denn am vergangenen Samstag auch bescheiden. „Wichtiger als das beschlossene Programm“, so der Ministerpräsident, „sei der Geist und Wille der Vereinbarungen“, und schließlich sei man „durch das baden-württembergische Wahlergebnis zu einer Koalition gezwungen gewesen“. Heute werden die Koalitionsverhandlungen in Stuttgart ruhen. SPD-Spöri folgt einem Ruf seiner Partei nach Bonn, Erwin Teufel erfährt huldvoll Audienz beim baden-württembergischen Landesbischof Engelhardt.