NACHGEFRAGT
: Das Ende von einem, der sich nicht wehrte

■ Nachdem er sein Haus einer Westeigentümerin überlassen mußte, erhängte sich Dietrich H. an einem Apfelbaum

Zepernick (bei Berlin). Dietrich H. erhängte sich in Zepernick am 28. April zwischen den blühenden Apfelbäumen des Gartens. Die Blütenpracht war so dicht, daß keiner der Nachbarn etwas Ungewöhnliches bemerkte. Nach dem Abgeordneten Martin Dalk machte nun bereits das zweite Ofer der »Rückgabe vor Entschädigung«-Regelung Schlagzeilen. Jedoch beide Selbstmorde sind nicht allein mit dem Problem der Rückgaberegelung zu erklären. Die Suizidfälle sind ein Scheitern an den neuen westlichen Verhältnissen und Realitäten schlechthin.

Dietrich H. war nie sehr gesprächig mit seinen Nachbarn gewesen. Auch an der Imbißbude hundert Meter weiter kennt ihn die gesprächige Verkäuferin nur vom Sehen. Er war manchmal da, aber ein bißchen geschwatzt, wie die meisten hier, hat er nie. In der letzten Zeit lebte er zurückgezogener und geradezu eigenbrötlerisch. An dem Häuschen reparierte er gar nichts mehr.

1965 waren die Eltern mit ihren drei Kindern, zwei Töchtern und einem Sohn, in das kleine Holzhäuschen in Zepernick gezogen. Ein Westgrundstück wie viele in Zepernick und der gesamten Berliner Umgebung. Die Familie wußte das, aber die Miete war wie überall niedrig. Die Schwestern zogen, als sie erwachsen waren, irgendwann fort. Dietrich blieb bei seiner inzwischen verwitweten Mutter — sein Vater hatte bereits Selbstmord begangen und sich erhängt.

Rückkehr und Arbeitslosigkeit

Im Frühsommer 90 kündigte Dietrich H. an seiner Arbeitsstelle im Kabelwerk Schönow und ging mit seiner Freundin in den Westen. Die Mutter, die schon etwas hilflos war, blieb allein zurück und wurde von der Gemeinde mit einem Platz in einem Seniorenheim versorgt. Aber irgendwie klappte es für den 43jährigen nicht so, wie er sich das gedacht hatte. Im Herbst kam er nach Zepernick zurück — allein. Er zog wieder in das Häuschen und versuchte, erneut Arbeit zu finden. Aber auch auf seiner alten Arbeitsstelle fand er inzwischen keine feste Anstellung mehr. Im November stellte Dietrich H. Antrag auf Sozialhilfe. Das Sozialamt bot ihm eine Umschulung an. Dierich H. sagte zu. Als er ab Mitte des Monats sogar wieder Arbeitslosengeld erhielt, ließ er sich jedoch auch auf dem Sozialamt nicht mehr sehen.

Gericht verfügt die Räumung

Inzwischen war seine Mutter verstorben. Die Westberliner Eigentümerin pochte auf ihr Grundstück. Hätte Dietrich H. ihr wenigstens die Miete regelmäßig überwiesen und beim Mieterbund in Zepernick um Rat gefragt, würde er vieleicht jetzt noch in dem Holzhäuschen wohnen. Doch so schlug das Verhängnis gnadenlos und endgültig über ihm zusammen. Dem Räumungsbegehren der Vermieterin wurde vor Gericht stattgegeben. Am bewußten 28. April sollte die Zwangsvollstreckung stattfinden. Am Abend zuvor war ein Gemeindepolizist bei Dietrich H. kurz zu Besuch. Er teilte ihm mit, daß ihm die Gemeinde ein Zimmer besorgt hätte, wo er dann vorerst wohnen könne. Dietrich H. bestätigte, er wisse, daß er ausziehen müsse. Aber das Zimmer brauche er nicht, weil er zu seiner Schwester nach Berlin ziehen könne. Der Polizist ging wieder. Er war der letzte, der Dietrich H. lebend gesehen hat. Am Morgen des 28. April erhängte sich der inzwischen 44 Jahre alte Mann in den blühenden Bäumen. In einer Glasvitrine hinterließ er seine letzten Worte direkt auf dem Räumungsbescheid: »Ich kann nicht mehr.« Aktive Gegenwehr war nicht Sache des Dieter H.

Eine seiner Schwestern besuchte inzwischen das Zepernicker Gemeindeamt. Sie teilte mit, daß sie auf sämtliche Ansprüche verzichtet. Zu erben gab es bei Dietrich H. sicherlich ohnehin nichts mehr. Die Kosten der Beerdigung trägt die Gemeinde. Markstein