Stolpe und der Schlußstrich

Wenn sich die Auffassung durchsetzt, daß Stasiakten lügen, dann kann die Gauck-Behörde ihre Arbeit einstellen. Stasioffiziere, die die Akten anlegten, werden heute ironischerweise zu Entlastungszeugen  ■ VON WOLFGANG GAST

Die Aufarbeitung der DDR- Vergangenheit ist an einen entscheidenden Wendepunkt gelangt. War es Anfang des Jahres noch unumstrittener Konsens, über die Stasiakten die Machenschaften des Mielke-Ministeriums aufklären zu wollen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft und den Opfern Möglichkeiten für eine Rehabilitation einräumen zu wollen, so ist heute die Stimmung gründlich gekippt. Knapp viereinhalb Monate nach der Öffnung der Stasi-Archive plädiert die Mehrheit der Bundesbürger in Ost und West den jüngsten Meinungsumfragen zufolge dafür, einen Schlußstrich zu ziehen. Täglich mehren sich die Stimmen, die kurzerhand eine Schließung der Stasiarchive fordern. Manch einer sähe es gern, wenn ein Hochwasser der Spree das papierene Erbe der Staatssicherheit auf immer mit sich fort trüge.

Brandenburg steht Spalier...

Wenn Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) am heutigen Dienstag in Potsdam vor den Untersuchungsausschuß des Landtages tritt, muß er sich darüber bewußt sein, daß durch seinen Fall darüber mitentschieden wird, ob und wie die Vergangenheit von 40 Jahren DDR weiter aufgearbeitet wird. 85 Prozent der Brandenburger, so sagen es die Meinungsforschungsinstitute, wollen den früheren Konsistorialpräsidenten weiterhin im Amt des Ministerpräsidenten sehen. Und das, obwohl Stolpe seit Anfang des Jahres unter dringendem Verdacht steht, als Inoffizieller Mitarbeiter mit dem Decknamen „Sekretär“ über Jahrzehnte dem Staatssicherheitsdienst zugearbeitet zu haben. Stolpe bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe vehement. Folgt man seiner Darstellung, dann wurde er von den Mitarbeitern der Stasi lediglich „abgeschöpft“ und ohne sein Wissen von der für die Überwachung der Kirchen zuständigen Abteilung XX/4 als Inoffizieller Mitarbeiter „IM Sekretär“ registriert und über Jahre in den Akten geführt.

Die Version Stolpes haben vergangenen Dienstag auch zwei Führungsoffiziere des „IM Sekretär“ gestützt. Sowohl der Leiter der Kirchenabteilung, Oberstleutnant Joachim Wiegand, als auch sein Stellvertreter, Klaus Roßberg, gaben als Zeugen vor dem Untersuchungsausschuß an, den Konsistorialpräsidenten nur „fiktiv“ in der Kategorie eines IM geführt zu haben. Unter Eid sagte Wiegand aus, Stolpe hätte nicht gewußt, daß er als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi geführt wurde, auch habe er den Decknamen „Sekretär“ nie benutzt. Richtige Aufträge habe die Stasi ihrem Gesprächspartner aus der Kirche nicht gegeben, schwor Wiegand weiter. Im beiderseitigen Bemühen, Konflikte zwischen Kirche und Staat zu vermeiden, habe das MfS zwar deutliche „Erwartungshaltungen geäußert“. Den Versuch jedoch, die Kirchenleitung durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zu steuern, stritten Roßberg und Wiegand ab. Die Ausführungen der Führungsoffiziere wurden nicht nur von Stolpes Parteifreunden in der SPD als entlastende Ausagen gewertet.

In krassem Gegensatz zu den Aussagen der Stasi-Offiziere stehen die Recherchen der Gauck-Behörde. Die aufgefundenen Unterlagen zum IM Sekretär „lassen den Schluß zu, daß er nach den Maßstäben des MfS über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren ein wichtiger IM im Bereich der evngelischen Kirchen der DDR war“. „Bemerkenswert“ sind, urteilte der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Joachim Gauck,

— „die ungewöhnlich engen Zeiträume zwischen Ereignis und Information des MfS, unter Berufung auf die Quelle IM Sekretär,

— der hohe Prozentsatz der auf der Basis der IM-Berichte weitergeleiteten Informationen an Führungsgremien des MfS und der SED

— die Treffen in einer konspirativen Wohnung, ein Tatbestand, der aus der Sicht des MfS die Verläßlichkeit der Verbindung dokumentiert und zur Sicherung der Konspiration wichtig war.“

Fink, Gysi und Stolpe — drei Fälle

Längst hat sich die nun drei Monate währende Auseinandersetzung um die Stasi-Kontakte Stolpes von der Fragestellung entfernt, ob und wieweit der Kontakt des Kirchenmannes zur Staatssicherheit notwendig war, um im Auftrag der Kirche bei Verhandlungen in huminitären Fragen zu positiven Ergebnissen zu kommen. Stolpes kategorisches „Nein“, sein Dementi einer Stasimitarbeit werfen gemeinsam mit den Aussagen der Stasi-Offiziere die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Stasiakten auf.

Der Ministerpräsident ist nicht der einzige, der zu seiner Verteidigung die detaillierten Angaben in den Stasiunterlagen in Zweifel zieht und zu seiner Verteidigung auf die Aussagen früherer Stasi-Offiziere zurückgreift. Den Anfang machte der Rektor der Berliner Humboldt-Universität, Heinrich Fink. Der Rektor war nach den Erkenntnissen der Gauck-Behörde als Inoffizieller Mitarbeiter „Heiner“ registriert. Fink dementierte heftig — die Stasianschuldigungen sollten seiner Meinung nach nur dazu dienen, einen unbequemen Universitätsmitarbeiter zu schassen und um den nach der Wende in der Humboldt-Universität in Gang gekommenen eigenständigen Erneuerungsprozeß zu torpedieren. Fink, der aufgrund des Überprüfungsergebnisses der Gauck-Behörde vom Berliner Senat fristlos entlassen wurde, mobilisierte eine internationale Solidarisierungskampagne, in der Akademiker aus den verschiedensten Ländern gegen seine Entlassung protestierten. Anschließend klagte er — erfolgreich — vor dem Berliner Arbeitsgericht. Die im Überprüfungsbericht von der Gauck-Behörde aufgeführten Angaben seien keine Beweise, urteilte das Gericht. Die Informationen aus den Stasiakten seien allenfalls Indizien, die im vorliegenden konkreten Fall für eine fristlose Entlassung des Rektors nicht ausreichend wären.

Auch der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi muß sich seit einigen Monaten gegen Stasi-Vorwürfe wehren. Aus den Stasiakten geht hervor, daß er in einem IM-Vorlauf unter dem Decknamen „Gregor“ geführt wurde. Spätere Stasi-Dokumente, in denen detailliert über Vier-Augen- Gespräche des Rechtsanwaltes Gysi mit den prominenten Regimekritikern Robert Havemann oder Rudolf Bahro berichtet wird, tragen als Quellenangabe „IM Notar“.

Allen drei Fällen ist gemeinsam, daß es keine IM-Akte mehr gibt, und sich die Anschuldigungen auf Akten stützen, die der von den Stasi-Offizieren verfügten Aktenvernichtung im Dezember 1989 entgingen. Belastende Anhaltspunkte finden sich dennoch in anderen Akten. Die Witwe des Regimekritikers Havemann mußte beispielsweise in ihren „Opferakten“ nachlesen, daß der Inhalt vertraulicher Gespräche ihres Gatten mit dem Anwalt Gysi auf kürzestem Wege an den Staatssicherheitsdienst gingen. Weil sich unter den Aufzeichnungen auch Wertungen, Einschätzungen und Vorschläge wiederfinden, kann Katja Havemann Gysis Erklärung, es handele sich um Aufzeichnungen aus einer elektronischen Überwachung, nicht glauben.

Ähnlich ist es auch im Fall des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Über Jahre hinweg wird der „IM Sekretär“ beispielsweise in „Jahresarbeitsplänen“ aufgeführt. Die Festlegung aus dem Jahr 1979 lautete etwa: „Zur Sicherung der operativen Einflußnahme und zur Kontrolle der Tätigkeit der Konferenz der Kirchenleitungen erfolgt der Einsatz des IM Sekretär. Über diesen IM erfolgt die konspirative Beschaffung der Materialien der KKL (Konferenz der Kirchenleitung), eine sofortige Berichterstattung bei politisch-relevanten Themen und die operative Einflußnahme bei Entscheidungen.“

Der Auftritt der Stasi-Offiziere

Nichts von all dem soll stimmen, folgt man den Aussagen der Führrungsoffiziere Gysis oder Stolpes. Stasi-Offizier Lohr antwortete auf ein Schreiben Gysis, er habe Gysi als „IM“-Vorlauf kategorisiert, um damit amtsintern den Vorgang Gysi über die Jahre gegen den Willen seiner Vorgesetzten weiterführen zu können. Die Offiziere Roßberg und Wiegand gaben im Fall Stolpe vor dem Postdamer Untersuchungsausschuß sogar an, „fast alle“ kirchenleitenden Personen fiktiv als IM registriert zu haben. Wiegand berief sich auf eine Ausnahmeregelung, die es der Kirchenabteilung erlaubt hätte, an dem sonst strengen Regime der IM-Arbeit vorbei, einzelne auch ohne deren Einwilligung in die konspirative Zusammenarbeit „betriebsintern“ als angeworbene Spitzel zu klassifizieren.

Dabei sind die Zeugen, die heute belegen sollen, daß gegen die sonst gültigen Bestimmungen des MfS bei der Werbung Inoffizieller Mitarbeiter verstoßen wurde, daß Ausnahmen gemacht wurden, diejenigen, die die Akten selbst anlegten. Nicht nur, daß Ex-Oberstleutnant Wiegand vor dem Ausschuß nicht schlüssig zu erklären vermochte, wie es zu der von ihm behaupteten Ausnahmeregelung kam; Wiegand ist auch derjenige, der im Wendeherbst 89 die Vernichtung hochkarätiger IM-Vorgänge in seiner Abteilung veranlaßt hatte. Der Führungsoffizier machte vor dem Ausschuß auch keinen Hehl daraus, daß er seine damaligen Entscheidung heute noch richtig findet. Gefragt, warum er die Stolpe nach seinen Aussagen eigentlich entlastenden, fiktiven IM-Akten überhaupt vernichten ließ, sagte er, daß er nach der Wende insbesondere im Kreis der Bürgerrechtler Innen habe erleben müssen, wie „pauschal“ die Arbeit der IM gewertet wurden. „Da bin ich froh, daß die Akten vernichtet wurden“.

So schwer die Wahrheitsfindung ist, so wenig Mühe gab sich in Potsdam der Untersuchungssausschuß, sie zu finden. Den Unstimmigkeiten in den Aussagen Wiegands oder Roßbergs wurde nicht nachgegangen. Weder wurde gefragt, wie genau und wann die behauptete Ausnahmeregelung zustande kam, noch wie die Mitarbeiter es fertig gebracht haben, daß ihre „fiktiven IM“ bei den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen im MfS standhielten. Auch ein anderer augenfälliger Widerspruch entging den Mitglieder des Ausschusses. Der Führungsoffizier des IM Sekretär muß den Akten zufolge zweimal gewechselt haben. Wie erklärte beipielsweise Führungsoffizier Sgraja seinem Nachfolger Roßberg, daß es sich bei dem von ihm „übergebenen“ IM lediglich um ein fiktives Produkt handelte, den er jahrelang als einen seiner besten Mitarbeiter in den Akten führte?

Wo Mitarbeiter des MfS in der Vergangenheit belastende Aussagen machten, wurden diese stets mit dem Argument, daß das Lügen quasi als Berufseigenschaft der Mielke-Mitarbeiter angesehen werden muß, zurückgewiesen. Als Entlastungszeugen erscheinen sie dagegen, insbesondere wenn das Ergebnis opportun ist, tauglich. Eine Situation, die nicht nur vor dem Landtagsausschuß in Postdam vertrackt ist. Stimmen die Aussagen der Offiziere, dann lügen die Akten, die sie selbst über Jahre als ihr Arbeitsmaterial angelegt haben. Sind aber die in den Akten dokumentierten Vorgänge stimmig, dann müssen zwangsläufig heute die Offiziere lügen.

Stolpe mußte sich der Rolle bewußt gewesen sein

Tatsächlich spricht vieles dafür, daß eher die Stasimitarbeiter heute die Unwahrheit sagen. Hält man sich vor Augen, daß es in Mielkes Ministerium im wesentlichen nur zwei Säulen der nach innen gerichteten Arbeit gab — die Inoffiziellen Mitarbeiter und die Akten —, auf deren Wirksamkeit Aussagekraft die MfS-Mitarbeiter penibel zu achten hatten, ist es schwerlich vorstellbar, daß ausgerechnet in einem für die Stasi so wichtigen Bereich wie dem der Kirchen einzelne Mitarbeiter umstandlos und ohne Konsequenzen an den gültigen Bestimmungen vorbei handeln konnten.

Der „Sekretär“ war zudem als IM der Kategorie „B“ (IMB) registriert, als Inoffizieller Mitarbeiter mit „Feindkontakt“. Die Dienstvorschriften sahen vor, daß die IM dieser Kategorie, der höchsten, halbjährlich auf ihre Leistungen, ihre Einsetzbarkeit und ideologische Festigkeit hin zu überprüfen waren.

Deckname und IM-Status mußte Manfred Stolpe in der Tat nicht wirklich bewußt gewesen sein. Eine der Ausnahmen, die das Reglement der Stasi zuließ, war, im Kirchenbereich auf die förmliche Verpflichtungserklärung des IM-Kandidaten zu verzichten. Als solche registriert durften sie allerdings erst werden, wenn sie die sonstigen Anforderungen an IM erbrachten — das heißt die Regeln der Konspiration wahrten, einen vertrauensvollen Umgang mit den Stasimitarbeitern pflegten und die geforderte ideologische Treue aufbrachten.

Die Rolle, die Stolpe für den Staatssicherheitsdienst spielte, mußte diesem bewußt gewesen sein. Mit Ausnahme des von Klaus Roßberg behaupteten Erfolgsdruckes, der auf der Kirchenabteilung gelastet haben soll, hätten die Führungsoffiziere mit einer fiktiven IM-Registrierung auch ohne Not gegen ihre Arbeitsrichlinien verstoßen. Im Repertoire der Staatssicherheit gab es genug andere Formen der Klassifizierungen, die eine reale MfS-Bewertung für die Tätigkeit Stolpes, aber auch Gysis oder Finks aus der Sicht der Stasi gerecht geworden wären.

Die aus den Stasiakten hervorgehende Indizienkette ist allen drei Fällen, Manfred Stolpe, Gregor Gysi und Heinrich Fink dicht gewirkt. Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere mußte aufgrund wesentlich weniger Indizien den Hut nehmen und sämtliche Parteiämter in der CDU niederlegen. Wer, wie die Verteidiger Stolpes den Inhalt der Stasiakten durch die Aussagen der früheren Stasimitarbeiter widerlegt sieht, müßte konsequenterweise für eine Rehabilitierung de Maizieres eintreten. Anderenfalls müßten sie sich parteipolitische Motive unterstellen lassen.

Also auch de Maiziere rehabilitieren?

Die gegenwärtig betriebene Entwertung der Stasiunterlagen hat allerdings wesentlich weitreichendere Folgen. Wenn die Stasiakten lügen sollen, wie will dann ein Stasiopfer seine Rehabilitierung einklagen? Dokumentiert wird die Verfolgung, die Einschüchterung und die „Zersetzung“ der Oppositionellen in der DDR ausschließlich in den hinterbliebenen Akten des Repressionsapparates. Aber auch die, die wegen einer IM-Tätigkeit aus dem öffentlichen Dienst geworfen wurden, müßten „rehabilitiert“ werden — wenigsten in den Fällen, in denen keine Verpflichtungserklärung der Betroffenen aufgefunden werden kann, weil die Akten vernichtet wurden.

Wenn sich die Auffassung durchsetzen sollte, daß die Akten vielfach von den Stasimitarbeitern manipuliert wurden, kann die Gauck-Behörde auch das frisch ins Leben gerufene Referat für „Bildung und Forschung“ schließen.

Wer will schon in Unterlagen forschen, die in der Öffentlichkeit als dubios gelten und deren Aussagekraft nicht belegbar ist? Nicht zu verantworten wäre es dann aber auch, die in den Stasiarchiven erfaßten Bürger und Bürgerinnen die sie betreffenden Unterlagen zur Einsicht zur Verfügung zu stellen. Die dort aufgeführten IM könnten auch „fiktiv“ geführt worden sein und nun als vermeintliche Täter zu Unrecht beschuldigt werden.

Die Konsequenzen ließen sich in einem Satz zusammenfassen: Schließt die Gauck-Behörde, mauert die Akten ein. Für die Bundestagsabgeordnete Ingrid Köppe (Bündnis 90/Grüne), die Ende letzter Woche von einem „alarmierenden Signal“ sprach, wäre dies „ein nachträglicher Sieg der Stasi über ihre Opfer“.