Die guten enteignet

Leipzig lebendig. Eine Chronik der Vorkommnisse.  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Rund 34.000 Besucher kamen, über 200 Veranstaltungen im Messehaus, in Cafés, Kneipen, Galerien und Kirchen sollten beweisen, daß die ehemalige verlegerische Hauptstadt nach wie vor eine „Buchstadt“ ist. Während die kleineren Verlage reges Publikumsinteresse verzeichneten, zeigten sich die großen westdeutschen Verlage zumeist enttäuscht.

Am Eingang des Messehauses kämpft wacker die Münchner „Feministin“ Hannelore Mabry. Sie propagiert nicht nur ihre Zeitschrift 'der Feminist‘, sondern seit sieben Jahren unverdrossen auch eine neue Grußform: „Heil Kind“ setzt sie dem „Männlein“ entgegen, das es wagt, sie mit einem „Grüß Gott, Fräulein“ anzusprechen. Sie meint es ernst: „Welcher Gruß wär' für ein Menschenkind sinnvoller als ,Heil‘?“

Gott will alle, verkündet das Plakat der „evangelischen Allianz Leipzig“. „Alle Fernsehzuschauer werden betrogen“, meint der rührige Kölner Versicherungsvertreter, LIVE-TV-Showbesucher, Einzelbuchverleger Augustus Hoffmann und kämpft auf dem Marktplatz für die Emanzipation des Fernsehzuschauers und für die Belange der Kleinverleger. Zärtlich sollte man sein Buch streicheln oder am besten gleich „in Pflege nehmen“, meinte er. Als Herr Biedenkopf seinen Eröffnungsgang durch die Messe absolvierte, wollte Hoffmann ihm noch „eine verpassen“. Tatsächlich und knallbunt stand er plötzlich neben ihm, besprach mit dem irritierten Landesvater dann aber doch nur die Not kleiner Verleger.

Der Prozentsatz seltsamer Bücher entsprach in etwa dem Prozentsatz seltsamer Menschen; tausend seltsame Geschichten reihen sich aneinander. Am Gemeinschaftsstand dänischer Verlage zum Beispiel erzählt man melancholisch, oft lachend, von der früheren Zusammenarbeit mit DDR-Verlagen. Das Interesse an dänischer Literatur sei sehr groß gewesen, die Übersetzungen ausgezeichnet, doch durch die Abgeschlossenheit der DDR wäre manchmal auch Seltsames entstanden. Ein Buch zum Beispiel, das im Freistaat Christiania spielte und in dem es ums Kiffen ging, litt darunter, daß die Übersetzer den Slang nicht kannten und „starken Tabak“ (=Hasch) mit „Zigarren“ übersetzt hatten. So hockten also in der deutschen Version junge Menschen auf dem Boden im Kreis und sahen bunte Dinge beim Zigarrerauchen.

Wie die meisten seiner Kollegen mag der österreichische Kleinverleger Maximilian Droschl die Frankfurter Messe nicht allzusehr. Die Hektik und Unruhe dort wiederspricht der Literatur, „die ja doch einer gewissen Ruhe bedarf“. Man schiele in Leipzig zu sehr nach Frankfurt, „mit Geld walzen die Großverlage alles nieder“, und „man merkt gar nicht, daß man in der DDR ist.“ Die etwa zweihundert Veranstaltungen, die rund um die Messe herum stattfanden, behinderten sich oft gegenseitig. Der Droschl-Verlag hatte bei seiner Lesung gegen die übermächtige Konkurrenz von Günter de Bruyn, Lew Kopelew, Günter Grass, Erich Loest und sechs andere Veranstaltungen anzukämpfen. Während etwa tausend Zuschauer den omnipräsenten Großschriftsteller und den sichtlich gerührten Erich Loest als heimatliche Altstars feierten, bis es feucht in Schriftstelleraugen zu glitzern begann, kamen kaum zwanzig zu der großartigen Lesung der Droschl-Autoren Amselm Glück und Werner Schwab. Der Literaturbetrieb lebt von kleineren Skandälchen. In der „Alten Börse“ zelebrierte man hochachtungsvoll die „Hommage à Johnson“. Nicht etwa die alten DDR-Verleger, die seine Manuskripte abgelehnt hatten, eilten aufs Podium, sondern ein wahrer Freund kam zur Ehrung — Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld. Die Verantwortlichen schlugen die Hacken zusammen. Allein, die Freude des Freundes währte nicht lange, denn der zum Grußwort abkommandierte Messe-Abteilungsleiter sprach unerschrocken von „Dschonson“ und seinen „Mutmaßungen über Jabob“. Doch Unseld macht alles wieder gut und wies die Fans in seiner Rede zurück auf den rechten Weg.

Oder: Nachdem der sanftäugige Prenzlauer-Berg-Dichter Bert Papenfuß-Gorek, dessen schwarze Lederklamotten doch ein bißchen wie ein „Dirndlpendant“ (NDR) wirkten, mit seiner Band laut alte und neue Szenen beschworen hatte, sollte oder wollte der ehemalige Rocksänger Sascha Anderson an einer Session teilnehmen. Die Band hatte (leider) keine Lust mehr.

Oder: Der Berliner Kleinverleger Alexander Werwerka hatte sich verrechnet. So zogen die Zuhörermassen zunächst ins Rathaus, um dem dynamischen Duo Gregor Gysi und Heiner Müller zu lauschen. Besorgt um die wertvollen Bilder im Saal, drängte sich der Oberbürgermeister zunächst unerkannt durch die drängelnden Massen („Oberbürgermeister? Da kann ja jeder kommen!“) und genehmigte schließlich im nachhinein die Benutzung des Saals. Doch Masse zieht Massen an, auch der Rathaussaal war zu klein. Schließlich landeten alle auf dem Marktplatz. Dort wandte Gregor sich an Heiner und präsentierte ein besonders nettes Überraschungsei: „Da wir, die PDS, auch noch 1994 im Bundestag sein werden, können wir auch einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen stellen. Heiner Müller hat versprochen, unser Kandidat zu sein — falls er nicht gewählt wird.“

Es gab einen anderen Fastskandal, als der Ostberliner Dichter Peter Wawerzinek nur kurz auftrat, um unangekündigt seinen Westberliner Freund Harry Hass aus dessen Erstlingsroman (Maas-Verlag) lesen zu lassen, der zunächst in Punkpose eine Fackel im Lesesaal der Messehallen entzündete und dann mit Chinaböllern und Knallfröschen herumwarf. Kurz bevor die verängstigten Saalverantwortlichen den enthusiastischen Dichter hinauswarfen, verbrüderten sie sich mit ihm ganz begeistert. „Wir kommen wieder“, meinten die meisten, und in diesem Jahr sei es doch großartig lebendig gewesen, fand Brigitte Weißbäcker am Stand der „Sozialistischen Verlagsauslieferung“ (Transit, Lettre, Orlanda-Frauenverlag, Roter Stern und so weiter). Im letzten Jahr sei leider kaum etwas geklaut worden, und es spräche für die Lebendigkeit der Leipziger Messe, daß diesmal nicht nur einiges, sondern gerade die guten Bücher enteignet wurden.