Der Umgang mit den Stasiakten

■ Betr.: "Stolpe: Kirche öffnet alle Akten", taz vom 24.4.92

Betr.: „Stolpe: Kirche öffnet alle Akten“, taz vom 24.4.92

Keinesfalls haben MdB Dr.Hermann Scheer und ich die Auflösung der Gauck-Behörde gefordert. In unserer gemeinsamen Erklärung heißt es wörtlich: „Die jetzige Tätigkeit der Gauck-Behörde muß beendet werden, weil sie mit innerer Zwangsläufigkeit gegen den Rechtsstaat gerichtete Zustände produziert — also im wesentlichen in aller Öffentlichkeit dasselbe fortsetzt, was die Stasi zuvor nichtöffentlich machte. Der Bundestag muß eine vollkommen neue gesetzliche Regelung über die Verfügbarkeit und Handhabung der Stasiakten treffen.“ Die zukünftige Praxis sollte in erster Linie der Rehabilitation der Opfer dienen.

Die bisherige Diskussion um Ministerpräsident Manfred Stolpe beweist, daß der öffentliche Umgang mit den Stasiakten das elementare rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung gegenüber den in den Akten genannten Personen umkehrt. Prinzipiell dürfen Vermerke anonymer Stasi-Schreiberlinge, Akten einer verbrecherischen Geheimdienstorganisation, nicht als gerichtverwertbares Material geeignet sein. Dabei geht es nicht einmal nur um den Wahrheitsgehalt, sondern auch um die von allen Geheimdiensten gepflegte obrigkeitsstaatliche „Alles- im-Griff-Sprache“, die kaum noch wahrheitsgetreu zu entschlüsseln ist. Wer daraus, wie im Fall Stolpe durch die Gauck-Behörde geschehen, eine Expertise anfertigt, erliegt der sprachlichen Angeberei und verleiht nachträglich den Stasi-Sachbearbeitern eine Autorität, die sie möglicherweise selbst nie bei ihren politischen Vorgesetzten gehabt haben. Es ist tragisch, daß mit Hilfe dieser Akten nicht nur über das Lebensschicksal von Manfred Stolpe, sondern auch von vielen kleinen Mitarbeitern entschieden werden soll. Hans Wallow, MdB