RU 486 — die Abtreibungspille

Warum sind plötzlich auch die LebensschützerInnen für die chemische Abtreibung in Form der RU 486? Die Prozedur ist länger, schmerzhafter und komplizierter als die Absaugmethode  ■ VON SYLVIA GROTH UND LISA LUGER

Seit der Einführung der Antibabypille in den 60er Jahren hat kaum eine Pille soviel Aufmerksamkeit erhalten wie RU486: von den einen wird sie als Todespille verteufelt, von den anderen als sanftes, frauenbefreiendes Wundermittel gepriesen. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint mittlerweile für RU486 zu sein. Selbst Frauen aus Kreisen der CDU/CSU, seit Jahren Gegnerinnen der Abtreibung, die sich in der Abtreibungsdebatte eindeutig gegen eine Liberalisierung des Schwangwerschaftsabbruchs aussprechen, erkennen plötzlich die „Vorteile für Mutter und Kind“. Auf Antrag der SPD fand Ende April eine Bundestagsdebatte zum Them statt. Seither befassen sich Fachausschüsse mit der Pille.

Vor allem die selbsternannten LebensschützerInnen sind bisher stets gegen die Abtreibungspille gewesen. Ihre Motive sind geläufig. Was allerdings die Öffentlichkeit bisweilen verwirrt, ist, daß sich auch das Feministische FrauenGesundheitsZentrum (FFGZ) in Berlin explizit gegen RU486 ausspricht. Vor allem medizinische, aber auch ethische und politisch Gründe, veranlassen das FFGZ dazu, gegen RU486 eine sehr kritische Haltung einzunehmen.

Mifepriston, unter dem Handelsnamen RU 486 bekannt, ist ein synthetisches Hormon, das 1980 von Wissenschaftlern der Firma Roussel Uclaf, einem französischen Tochter-Unternehmen der Hoechst AG, hergestellt wurde. Seit Februar 1989 ist es unter strenger medizinischer Kontrolle in spezialisierten Zentren in Frankreich erhältlich. Das künstliche Hormon blockiert das körpereigene Progesteronangebot, so daß die Schwangerschaft sich von der Gebärmuttschleimhaut ablöst. Es verstärkt gleichzeitig das natürliche Prostaglandin, so daß es zu Gebärmutterkrämpfen kommt.

Die RU486 allein reicht nicht aus

Die Einnahme von RU486 führt allerdings nur in 60-80 Prozent aller Fälle zu einer Abtreibung. Deshalb muß zusammen mit dieser Pille immer ein zweites Hormon, nämlich künstliche Prostaglandine eingenommen werden. Diese wirken auf die Gebärmuttermuskulatur und unterstützen das Hinausstoßen des Embryos. Beide Hormone zusammen bewirken bei ca. 95 Prozent eine Abtreibung. „Mifepriston ist die erste einer neuen Generation von Drogen und als solches nicht unbedingt das Beste“, so äußerte sich 1990 ein Forscher der Weltgesundheitsorganisation. Die genaue Wirkungsweise des künstlichen Hormons ist der Wissenschaft bis heute noch nicht ganz bekannt. Es beeinflußt das zentrale Nervensystem, die Produktion von lebenswichtigen Hormonen der Nebennierenrinden und möglicherweise auch den Herzkreislauf.

Noch nach 14 Tagen sind Spuren von RU 486 im Blut nachweisbar. Außerdem bewirkt es nach erfolgter Abtreibung einen verspäteten Eisprung und verlangsamt die folgende Eireifung. Ermittelt wurden diese Wirkungsweisen bei Versuchen, in denen Mifepriston als Verhütungsmittel, als Pille danach, bei späten Abtreibungen oder zur Weheneinleitung eingesetzt wurde, aber auch zur Förderung der Milchbildung oder zur Behandlung von bestimmten Krebsarten.

Die Wirkungen von Prostaglandinen sind dagegen seit 20 Jahren recht gut bekannt. Als künstliche Hormone werden sie zur Abtreibung benutzt, aber auch als Medikament bei der Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen eingesetzt.

Prostaglandine unterdrücken das Immunsystem und erhöhen die Herzrate mit der Gefahr eines Kreislaufschocks. Mindesten acht Frauen sind in den USA nach legalen Abtreibungen mit Prostaglandinen gestorben. Bauchschmerzen, Krämpfe, Übelkeit und Durchfall sind geläufige Folgewirkungen nach der Einnahme. Bisher wurden fünf Fälle von behinderten Babys bekannt, deren Mütter in der Frühschwangerschaft Prostaglandine eingenommen hatten. In England starb 1991 eine Frau an den Folgen der chemischen Abtreibung.

RU 486 und Prostaglandine müssen als chemische Abtreibungsmethode immer zusammen eingenommen werden. Die Wechselwirkungen beider Hormone, die über die oben beschriebenen Folgen hinausgehen können, sind bisher nicht vollständig erforscht. Versuch und Irrtum werden hier, wie bei anderen Medikamenten, am Körper der Frau ausgetragen. Es mag Einwände geben, jede Arzneimitteleinnahme sei mit bestimmten Risiken verbunden. Doch entscheidend ist, daß die Frauen, die die Abtreibungspillen einnehmen, gesund sind und daß eine tatsächlich unschädliche Alternative zur Verfügung steht, nämlich das Absaugen der Schwangerschaft.

Erhebliche Nebenwirkungen

Würden RU 486 und Prostaglandine in der BRD als Abtreibungspillen zugelassen, so geschähe dies selbstverständlich im Rahmen des geltenden oder neugeregelten 218. Das Beispiel Frankreichs (s. Kasten) verdeutlicht den Weg, den eine Frau bei der chemischen Abtreibungsmethode gehen muß.

Die suggerierten Vorstellungen, dieses Verfahren sei privater, unkomplizierter oder freier von ärztlicher Kontrolle, treffen nicht zu. Im Gegenteil: Auch nach Auffassung der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stellt diese chemische Methode einen essentiellen, therapeutischen Fortschritt dar, „vorausgesetzt, daß das Antigestagen unter strenger medizinischer Kontrolle angewandt wird.“

Als Folge der Einnahme von RU486 und Prostaglandinene kommt es zu starken Blutungen. Wann diese Blutung beginnt, wie lange sie dauert und ob der Abbruch komplett ist, bleibt lange unsicher. Untersuchungen belegen, daß in manchen Fällen Blutungen bis zu 45 Tage anhielten; im Schnitt müssen Frauen mit acht bis zwölf Tagen rechnen. Die Blutungen können so stark sein, daß Bluttransfusionen notwendig werden. Dies ist eine sehr seltene Komplikation, doch sie trat immerhin bei fünf von 579 untersuchten Frauen auf. Etwa die Hälfte aller bisher untersuchten Frauen litt unter Erbrechen, 13 Prozent unter Durchfall. Schmerzen sind normale Begleiterscheinungen. Sie machen bei 50-70 Prozent der Frauen zusätzlich die Einnahme von Schmerzmitteln notwendig. So kommt also noch ein drittes Medikament zu dieser chemischen Abtreibung hinzu.

Daß viele Frauen mit der Abtreibungspille liebäugeln, mag unterschiedliche Ursachen haben: Sicher birgt die Aussicht auf eine Alternative zur mechanischen Abtreibung die Hoffnung, der Eingriff könne leichter, unkomplizierter und schonender sein und in größerer Privatheit durchgeführt werden. Allein das Wort Pille suggeriert, das Verfahren sei einfacher als ein mechanischer Eingriff. Denn die Pille kennt eine Frau. Vielfach sind Frauen, die die Abtreibungspille befürworten, allerdings schlichtweg schlecht oder falsch informiert. Das umständliche Verfahren und die immensen Nebenwirkungen bleiben unerwähnt.

Mit RU 486 meinen Frauen, unabhängiger von ÄrztInnen und deren technischen Fähigkeiten zu sein. Sie wollen selbst etwas unternehmen, selbst die Verantwortung tragen. Doch das einzige, was Frauen bei einer chemischen Abtreibung selbst machen, ist: die Pillen zu schlucken. Dabei sind sie nicht allein, sondern alles geschieht unter der Kontrolle der ÄrztIn und unter Begleitumständen, die alles andere als erleichternd und frauenfreundlich sind.

Sowohl chemische als auch mechanische Methode setzen unter heutigen Bedingungen intensiven ärztlichen Kontakt voraus. Bei der mechanischen Abtreibung ist die Frau auf die technische Kompetenz der ÄrztIn angewiesen. Allein dieses Angewiesensein auf die technischen Fertigkeiten der ÄrztIn macht eine Frau bei dieser Methode abhängiger von ihrer Beziehung zur MedizinerIn als bei einer Pillen plus Prostaglandin-Einnahme. Die chemische Methode setzt zwar mehrere körperliche Untersuchungen und diagnostische Verfahren voraus, nicht aber eine bestimme technische Fertigkeit des Arztes. Vielleicht sind ÄrztInnen deshalb diesem Verfahren gegenüber so aufgeschlossen.

Die Angst von Frauen vor der mechanischen Abtreibung hat vielfältige Gründe und beruht weniger auf eigenen schlechten Erfahrungen. Die Komplikationsrate nach einer Abtreibung per Absaugmethode liegt in West-Berlin zum Beispiel unter 0,3 Prozent. Die Grund dafür, daß Abtreibungen immer noch mystifiziert werden, liegt vielmehr in der langwährenden Illegalität des Schwangerschaftsabbruchs. Hinzu kommt das Tabu, mit dem Abtreibungen auch heute noch belegt sind. Nach landläufiger Meinung ist ein Abbruch gefährlich und immer ein traumatisches, schmerzhaftes Erlebnis. Hervorzuheben bleibt dennoch, daß es vielen Frauen nach einem mechanischen Eingriff gut geht und sie eine große Erleichterung und Befreiung verspüren.

Und die Moral von der Geschicht'

Ein weiterer Nachteil der chemischen Methode, der von vielen BefürworterInnen nicht gesehen wird, ist der immense Zeit- und Entscheidungsdruck, unter dem eine Abtreibung mit Pille vonstatten gehen muß. Während die Absaugmethode bis zur 12. Woche durchgeführt wird, ist die medikamentöse Abtreibung letzendlich nur bis zur 6. Woche möglich. Das heißt, die Schwangerschaft muß früh festgestellt, die Entscheidungen sehr rasch gefällt werden. Bisher finden jedoch die meisten Abtreibungen in der BRD zwischen der 6. und der 9. Woche statt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem RU 486 und Prostaglandine nicht mehr eingesetzt werden können.

Die individuelle Auseinandersetzung mit der Abtreibung verläuft bei jeder Frau anders. Möglicherweise sind die Schmerzen und die Dauer des Eingriffs bei der chemischen Methode ein Grund, warum für viele die Pille akzeptabel ist. Nach dem Motto: Abtreibung ist schlecht, und frau muß leiden, wenn sie sich schon dazu entschließt. Wie anders ist es zu erklären, daß die Abtreibungspille plötzlich in weiten Kreisen gesellschaftsfähig wird. In den Medien werden entsprechende Erfahrungen mit RU 486 und Prostaglandinen zitiert. So äußerte sich eine Frau 1989 im Stern: „Ich möchte nie wieder daran denken. Ich fühlte mich viel stärker mit dem ganzen Geschehen konfrontiert als bei dem anderen Abbruch. Das tagelange Warten. Und dann sieht man den Embryo. Man übernimmt sehr viel mehr Verantwortung als bei der Absaugmethode. Ich werde in Zukunft bestimmt nicht wieder die Pille vergessen.“ Zynischerweise sehen auch ÄrztInnen in der Abtreibungspille ein pädagogisches Mittel, mit dem sie Frauen stärker zur Verhütung anhalten können: „Diese Frauen sind stärker motiviert, in Zukunft sorgfältiger zu verhüten.“

Andererseits ist es schon verwunderlich, warum gerade in einer Zeit, wo immer mehr Frauen kritisch der Anti-Baby-Pille gegenüberstehen und Hormonpräparate aufgrund ihrer Folgewirkungen ablehnen, gerade RU 486 und Prostaglandine so breiten Zuspruch finden.

Eine Wahl, die keine ist

Rund 60.000 Frauen nahmen bisher in Frankreich RU 486 und Prostaglandine ein, das sind etwa ein Viertel aller, die einen Abbruch machen lassen. Die unterschiedlichen Motivationen für oder gegen die Abtreibungspille mögen auch mit der Unterstützung, den Versagerquoten und früheren Erfahrungen zusammenhängen. Wenn es gute Bedingungen für Abtreibungen gibt, wie in den Niederlanden, dann sprechen nur wenige Gründe für RU 486 plus Prostaglandine. Breite Kenntnisse in der Öffentlichkeit über Verhütungsmittel, aber auch die Legalität des Abbruchs, dessen Kostenfreiheit und das unterstützende moralische Klima sorgen hier dafür, daß nur sehr wenige Frauen die chemische Abtreibung wählen. Einer Amsterdamer Studie zufolge entschieden sich alle untersuchten Frauen gegen die chemische Methode.

Der Vergleich zwischen dem Absaugen der Schwangerschaft, ambulant und ohne Vollnarkose, und der Einnahme von RU 486 und Prostaglandinen fällt unseres Erachtens in allen Aspekten positiv für die mechanische Methode aus. Dennoch wird es Frauen geben, die trotz ausreichender Information die Pillen-Methode bevorzugen. Für diese Frauen sollte sie zur Verfügung stehen.

Selbstverständlich muß die Palette der Wahlmöglichkeiten von Abtreibungsmethoden vergrößert werden. Dabei sollten auch die von Frauen selbst durchführbaren Methoden berücksichtigt werden. Es bleibt zu befürchten, daß sich durch RU 486 die Abtreibungslandschaft bei uns verändern könnte. Denn mit der Einführung der Abtreibungspille könnten möglicherweise immer weniger Ärzte bereit sein, den für Frauen weniger schädlichen, aber für Ärzte arbeitsintensiveren ambulanten Eingriff - die Absaugmethode - durchzuführen. Die Qualität der mechanischen Abtreibung könnte nachlassen. Frau fände — trotz Wahlmöglichkeiten — bald niemanden mehr, der einen mechanischen Eingriff vornimmt. Bald wäre dann nur noch die medikamentöse Abtreibung möglich, die für viele Frauen jedoch gar nicht in Betracht kommt (s. Kasten). Trotz theoretisch erweiterter Wahlmöglichkeiten würden Abtreibungen praktisch unmöglich werden.

Um dieser Politik entgegenzuwirken, kann es also nicht darum gehen, die Behandlung mit RU 486 und Prostaglandinen nun schnellstmöglichst zuzulassen. Es geht vielmehr darum, mehr und bessere Abtreibungsbedingungen für Frauen durchzusetzen.

Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen des Feministischen FrauenGesundheitsZentrums, Berlin.