Unzufrieden an die Urnen

■ Urabstimmungen über Tarifkompromiß begonnen

Berlin (taz) — Im öffentlichen Dienst Westdeutschlands, bei Post und Bahn haben gestern die Urabstimmungen über den Tarifkompromiß begonnen. Die Arbeitnehmer sollen ihr Votum zu den ausgehandelten 5,4 Prozent und zur Beendigung des Streiks abgeben. Vor allem bei der ÖTV rechnet man mit einem knappen Abstimmungsergebnis; die Basis ist mit dem Abschluß nach zehntägigem Streik alles andere als zufrieden. Die Eisenbahner wollen ihr Ergebnis heute abend bekanntgeben, ÖTV, DAG und die Postler Mittwoch abend oder Donnerstag.

Die Satzung der ÖTV weicht in bezug auf die Modalitäten der Beendigung eines Arbeitskampfes von den Satzungen anderer Gewerkschaften ab. Bei allen Gewerkschaften gibt es hohe Hürden für die Einleitung eines Streiks. 70 bis 75 Prozent (ÖTV 75 Prozent) der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder müssen in der Urabstimmung dafür stimmen, damit gestreikt werden kann. Dieses hohe Quorum hat seinen guten Grund: Nur wenn fast alle Gewerkschaftsmitglieder die Entscheidung für den Arbeitskampf tragen, kann er mit Erfolg geführt werden. Entsprechendes gilt für die Beendigung eines Streiks, die ebenfalls durch Urabstimmung beschlossen wird: In den meisten Gewerkschaften genügt bereits eine Zustimmung von 25 bis 30 Prozent für die Annahme eines ausgehandelten Kompromisses und die Beendigung des Streiks.

Bei der ÖTV wird derzeit nicht über die Beendigung oder Weiterführung des Streiks beschlossen, sondern über die Annahme bzw. Ablehnung des Verhandlungsergebnisses. Das Quorum der ÖTV ist mit 50 Prozent außerordentlich niedrig angesetzt. Allerdings zählen bei einer Urabstimmung am Ende eines Streiks nur Mitglieder, die sich an der Urabstimmung beteiligen, während bei der Urabstimmung zu Beginn des Streiks alle Abstimmungsberechtigten mitzählen. Das faktische Quorum für die Annahme des Kompromisses ist also niedriger.

Kommt die 50prozentige Zustimmung für den Kompromiß dennoch nicht zustande, gilt er als abgelehnt. Dies würde die ÖTV-Führung in erhebliche Verlegenheit bringen, denn sie müßte nun versuchen, durch weitere Verhandlungen oder durch Fortsetzung des Arbeitskampfes ein verbessertes Ergebnis zu erreichen — ein wenig aussichtsreiches Unterfangen. Sie muß zwar nicht zum Streik zurückkehren, denn der geschäftsführende Hauptvorstand der Gewerkschaft kann nach den internen Richtlinien der ÖTV über den Zeitpunkt der Beendigung eines Streiks entscheiden. Das hat er in der letzten Woche bereits getan. Aber wie sonst ein verbessertes Ergebnis erzielt werden könnte, ist in der Satzung nicht geregelt. marke