Die Freiburger Wunderfahrkarte

In Südbaden wird Fahrkartenzukunft vorgelebt: Die Einführung eines regionalen Einheits-Billigtarifs sorgte in Freiburg und um Freiburg herum für einen sensationellen Run auf öffentliche Verkehrsmittel/ Elektronikfirmen wollen Chipsystem  ■ Aus Freiburg Florian Marten

Freiburger Frühling. Mühsam ächzend schiebt sich die schwere, grüne E-Lok den engen, steilen Schienenweg von der lieblichen südbadischen Metropole durchs Höllental hinauf zum Dach des Schwarzwalds. Die zwölf Kilometer von Himmelreich (455 m.ü.d.M.) nach Hinterzarten (858 m) sind die schwersten. Seit dem 1.September 1991 sind diese Kilometer urplötzlich noch ein ganzes Stück schwerer geworden: Statt drei Waggons hängen jetzt fünf dran— und die sind fast immer proppenvoll.

Karlfried Lehmann, Chef des Freiburger Hauptbahnhofs, seufzt: „Die Leute stapeln sich manchmal wie die Heringe.“ In Zahlen: Manchmal sind die Züge bis zu 190 Prozent belegt, in einem einzigen Waggon, dem obligatorischen „Silberling“, kämpfen dann 180 Menschen um 96 Sitzplätze. Mehr als fünf Wagen und der heute bereits praktizierte Halb- Stunden-Takt auf der wildromantischen Schwarzwaldstrecke sind aber nicht drin — Bahnsteiglängen und Steigung setzen Grenzen.

Probleme hat auch die Freiburger Straßenbahn: Mit einem Drei-Minuten-Takt in den Stoßzeiten ist auch sie an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt. Neue Wagen und eine perfektere Elektronik müssen her, soll der plötzlich Run auf Dauer bewältigt werden. Für Chaos und explodierende Fahrgastzahlen sorgte der 1.September 1991 auch bei allen anderen zwölf Nahverkehrsunternehmen, die sich mit Bundesbahn und Freiburger Verkehrs AG zur Verkehrsgemeinschaft Freiburg zusammengeschlossen haben.

An jenem Spätsommertag führten die badenwürttembergischen Landkreise Emmendingen und Breisgau- Hochschwarzwald zusammen mit der Universitätsstadt Freiburg eine Einheitsmonatskarte, die „Regio- Karte“ zum Preis von 49 Mark pro Monat und 490 Mark pro Jahr ein. 600.000 Menschen leben hier zwischen Rhein und Hochschwarzwald, einer Gegend mit einer der höchsten PKW- und Grün-Wähler-Dichten der ganzen Republik. Die Regio- Karte, die auf 2.400 Linienkilometern und einem gerade auch in der Fläche guten Bus- und Bahnnetz freie Fahrt gestattet, führte zu einem von ihren Initiatoren nicht erwarteten Ansturm. Nach ersten Schätzungen hat der ÖPNV auf einen Schlag fast 20 Prozent neue Fahrgäste gewinnen können. Vor allem im Freiburger Umland entdeckten die Menschen den ÖPNV wieder neu.

„Die Regio-Karte“, so erläutert ein Sprecher der Verkehrsgemeinschaft, „ist eine logische Weiterentwicklung unserer Nahverkehrsphilosophie. Der Fahrpreis ist unser wichtigstes Marketinginstrument. Er muß einfach und attraktiv sein.“ Während beispielsweise der Hamburger Verkehrsverbund zur Erläuterung seines Fahrkartensystems 23 engbedruckte Seiten benötigt und fast 100 verschiedene Monatspreise offeriert, wobei ein Wochenendausflügler ins Hamburger Umland sich mit weiteren zig Nahverkehrs- und Bahntarifen herumschlagen muß, lautet die südbadische Devise: Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel muß so einfach wie möglich sein.

Nach Jahrzehnten einer erfolgreichen Nahverkehrspolitik (Sperrung der Innenstadt, Stadtbahnausbau, Fahrradförderung, erste deutsche Umweltkarte) mußten die Freiburger Verkehrsplaner registrieren, daß so die Verkehrsprobleme nicht zu bewältigen waren. Die Freiburger Wohnungsnot und eine steigende Zersiedelung schufen im Pendlerverkehr genau jene Probleme neu, die man innerhalb der Stadtmauern gerade halbwegs in den Griff bekommen hatte. Auch in der Verkehrsplanerszene gilt heute der Stadtumlandverkehr als größtes Problem.

Die südbadische Regio-Karte hat gezeigt, wie für wenige Millionen Mark jährlichen Zuschusses Umsteige-Effekte in erstaunlichem Ausmaß gelingen. Zum Vergleich: Für jene 15 Millionen Mark, die das Modellprojekt die Landkreise, die Stadt und das Land Baden-Württemberg in den ersten drei Jahren kosten, ließe sich gerade eine einzige Park+Ride- Anlage mit 300 Stellplätzen bauen.

Die Regio-Karte könnte Vorbild für ein ganz neues System von Fahrkarte sein: Einige der Freiburger Macher träumen von einem bundesweiten Netz von Regio-Karten, die mit schlichten Zusatzkarten zu deutschen, eines Tages vielleicht sogar europäischen Gesamtnetz-Karten ausgebaut werden könnten. Zum Beispiel so: Für 50 Mark im Monat den Nahbereich, für 100 Mark ganz Deutschland, für 150 Mark Europa? Das System besticht: Wer einmal eine solche Karte hat, der wird sich jede einzelne Fahrt mit dem Auto überlegen, da sie ihm zusätzliche Kosten bringt.

Die Niederlande haben kürzlich ein solches Einheitspreissystem für ihre 600.000 Studenten, immerhin vier Prozent der Bevölkerung, eingeführt: Der Staat zieht 60 Gulden (55 Mark) monatlich von seinen Stipendien ab und spendierte dafür eine Karte, die in allen niederländischen Verkehrsmitteln gilt. Auch hier war die Wirkung umwerfend: Besonders die vorbildlichen Nacht- und Wochenendzüge sind seither gut ausgelastet — die Sicherheit in den öffentlichen Verkehrsmitteln nahm spürbar zu.

Ob diese Einheitspreissysteme sich durchsetzen werden? Elektronikfirmen und Stadtkassierer hoffen: Nein! Sie favorisieren die Einheits- Chipkarte, wie sie gegenwärtig in Lüneburg ausprobiert wird. Dort müssen BusbenutzerInnen neuerdings ein telefonkartenähnliches Etwas beim Ein- und Aussteigen durch Lesegeräte schieben. Am Monatsende werden ihre Fahrtkosten, von einem Zentralcomputer nach dem Best-Preis-System errechnet, vom Privatkonto abgebucht. Der Vorteil: Fahrtkosten werden individuell ermittelt, die Tarife können deshalb erheblich höher liegen. Nachteil: Diese Systeme sind kompliziert, für Massenverkehr (schnelles Ein- und Aussteigen) ungeeignet, wecken berechtigte Ängste vor Big Brother und bieten keinen Anreiz, aus dem Auto auszusteigen. Allerdings: Wer heute eine Verkehrswende und den Vorrang für den öffentlichen Nahverkehr will, kommt an der Regio-Karte nicht mehr vorbei. Keine andere Verkehrsinvestition bringt so schnell so großen Nutzen. Schließlich ließe sich eine bundesweite Einführung von Regio-Karten schon allein aus den Zinsersparnissen finanzieren, welche Bundesverkehrsminister Krause einstreichen könnte, würde er nur auf einen Teil seiner Autobahnverbreiterungsprojekte verzichten.