PORTRÄT
: Bescheidenheit als Mittel zum Zweck

■ Levon Ter-Petrosjan, Armeniens Präsident, ist schon zu Lebzeiten ein Mythos

Über Levon Ter-Petrosjan, der im Herbst vergangenen Jahres mit über 80 Prozent Wählerstimmen zum ersten Präsidenten eines unabhängigen Armeniens gewählt wurde, lassen sich nur mit großer Mühe nüchterne Bewertungen einholen. Der 47jährige Wissenschaftler steht unangefochten an der Spitze seines kleinen Kaukasusstaates von der Größe Belgiens. Das will etwas heißen. Denn die Politiker der Umbruchzeit in den kaukasischen Nachbarrepubliken Aserbaidschan und Georgien sind schon seit längerem von der politischen Bühne verschwunden oder vertrieben worden. Im Vergleich zu den angrenzenden Staaten geht es Armenien wirtschaftlich schlechter denn je zuvor: Seit Jahren blockiert die muselmanische Turkrepublik Aserbaidschan die Versorgungs- und Energiezufuhr. Anlaß sind die Streitigkeiten zwischen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und Eriwan um die Enklave Berg-Karabach. Energieengpässe, Versorgungs- und Ausnahmezustand konnten der Popularität Ter-Petrosjans bisher nichts anhaben.

Im Gegensatz zu seinen Amtskollegen der UdSSR- Nachfolgestaaten kann er auf einen „reinen Stammbaum“ verweisen. Nie gehörte er der Partei an oder war Teil der lokalen Nomenklatura. Anders als es die Legende schon zu Lebzeiten — auch in Eriwan — will, führte Levon Ter-Petrosjan kein erbittertes Dissidentenleben. Im Gegenteil, er war immer der Wissenschaft ergeben. Als Assyriologe schrieb er sechs Monographien und über 70 Artikel. Vornehmlich befaßte er sich mit den kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Armenien und dem Vorderen Orient. Auch international fanden seine Arbeiten Beachtung, besonders in Frankreich, wo er Mitglied der „französisch-asiatischen Gesellschaft“ wurde und die Pariser Ehrenbürgerschaft erhielt. Sein Hang zum Vorderen Orient hat biographische Wurzeln. Ter-Petrosjan wurde 1945 im syrischen Aleppo geboren. Sein Vater, bis zu seinem Tode ein überzeugter Kommunist, diente der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanons als Politbüromitglied. Während des Zweiten Weltkriegs organisierte er die Untergrundarbeit der Partei in Aleppo.

„Levon braucht die Politik nicht“, meint eine Wissenschaftlerin der Universität von Eriwan. „Er kann jederzeit zurück in die Wissenschaft und möchte das auch.“ Sein Biograph sagt das gleiche. In Frankreich soll demnächst ein politisches Porträt des Präsidenten erscheinen. Die besondere Aufmerksamkeit Frankreichs hat sicherlich etwas mit der großen Zahl armenischer Immigranten zu tun. Erst nach den Pogromen an Armeniern im aserischen Sumgait 1988 stieg Petrosjan in die Politik ein. Im Mai 1988 wurde er in den Vorstand des „Karabach-Komitees“ gewählt. Damals wirkte dieses Komitee als institutionelles Zentrum der armenischen Oppositionsbewegung. Wie in den meisten oppositionellen Gruppen der ehemaligen UdSSR gaben Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle den Ton an. Zum ersten Mal wurde hier auch der Mythos vom großen russischen Bruder in Frage gestellt, der das armenische Volk gegen die latente Gefahr der türkischen Henker schütze. Die Forderung nach staatlicher Souveränität stand noch nicht auf der Tagesordnung, aber die Legitimation sowjetischer Vorherrschaft zeigte bereits Risse.

Die Initiatoren des Komitees trafen sich seit Jahren in dem kleinen Eriwaner Café „skwasniak“ (Zugluft — ein russisches Wort), unter ihnen war auch Petrosjan. Die meisten von ihnen gingen später in die Politik. Einmal dort, konnten sie nicht zurück. Petrosjan arbeitet täglich 14 bis 15 Stunden, dabei raucht er drei Päckchen Zigaretten. Die wenigen Fotos, die es von dem attraktiven Mann gibt, zeigen ihn immer im schwarzen Anzug, lässig den Arm über die Lehne gehängt und in der Rechten eine Zigarettenspitze; er raucht, was es im unterversorgten Eriwan zu kaufen gibt. Petrosjan weiß um die Kraft seiner Ausstrahlung. Sie hat etwas Ambivalentes. In der Öffentlichkeit tritt er bescheiden auf. Fernsehterminen geht er aus dem Weg. Seit seiner Präsidentschaft meidet er das Publikum fast völlig. Schon den Wahlkampf betrieb er mit gezieltem Understatement: Während die anderen aussichtslosen Kandidaten die Stadt mit grellen Konterfeis verklebten, hing nur hier und dort ein Plakat, das den Präsidenten und seinen Vizepremier im Paßfotoformat wiedergab — Wahlkampf auf armenisch. Denn, so heißt es von anderer Seite, eigentlich liebe er den Auftritt, im Grunde seines Herzens sei er ein Tribun und ein Orator. Bescheidenheit als Mittel zum Zweck. Eine Eigenschaft, die ihm im Umgang mit dem Karabach-Konflikt auch außerhalb Armeniens Anerkennung verschafft hat. Nach den Gesprächen mit seinem aserbaidschanischen Gegenpart Mutalibow, die ergebnislos verliefen, pries er dessen Verhandlungsbereitschaft und äußerte Verständnis für die schwierige Position, in der sich der Präsident befände. Heute tritt Petrosjan für die Selbständigkeit der Region ein. Er wehrt sich gegen jegliche Interpretation, die darin einen christlich-islamischen Konflikt sieht. Für ihn sind das Versuche, aus „einem juristischen Problem ein konfessionelles zu machen“. Sollte sich diese Version durchsetzen, so Petrosjan, bestehe die Gefahr eines neuen Ost-West-Spannungsherdes.

Das würde ihm nicht ins Konzept passen. Denn er träumt von einem internationalen Finanzzentrum im ressourcenarmen Armenien; so eine Art Singapur schien ihm vorzuschweben, als er vor zwei Wochen dem Parlament seinen ökonomischen Entwicklungsplan präsentierte. Gewöhnlich meidet er den Obersten Sowjet, der noch aus kommunistischer Zeit stammt. Schon als dessen Vorsitzender hatte er Reformen gegen den Widerstand des konservativen Gremiums durchgeboxt, die weitergingen als in Rußland und anderen Republiken. Doch auch in Armenien verläuft der Wandel schwerfällig. Nicht zuletzt wegen der permanenten Ausnahmesituation, die Armenien am Tropf hält.

Legenden bilden eine nie versiegenwollende Lebensquelle in Armenien. Gorbatschow hatte Petrosjan Ende 1988 für einige Monate als „Rädelsführer“ des Karabach-Komitees ins Gefängnis gesteckt. „Mehr als sechs Monate wäre ich nicht am Leben geblieben“, hätte ihn der damalige Generalsekretär nicht aus dem Verkehr gezogen, gibt Petrosjan heute zu. Und noch einmal korrigiert der Biograph die Vita. Zwei vorübergehende Festnahmen während einer Demonstration zum Gedenken des türkischen Genozids in seiner Jugendzeit werden retrospektiv zu Haftstrafen aufgeblasen — ohne Ritterschlag geht es wohl nicht. Klaus Helge Donath