Jetzt tanzen wieder die Mäuse

■ Warum der Körper, unser alter Bedeutungsträger, langsam doch noch rebellisch wird / Heiteres und Besinnliches nach dem Bremer Festival „Butoh and Related Arts“

hierhin bitte das Foto von der

bandagierten Frau, die sich

mühsam aufstützt

Auf dem Festival: Maura Baiocchi

Die Lampen sind aus, die Meister aus dem Haus, jetzt tanzen wieder die Mäuse. Nach den zwölf Abenden des Butoh-Festivals schlurfen wir retour zu unserm Werkeltagstheater wie alte Eheleute, die einander ein bißchen elaborierter hassen gelernt haben. Über 85 Prozent Platzausnutzung melden die Veranstalter. Viele Leute womöglich, die für den Betriebsfrieden nicht mehr so leicht zu haben sind.

Aller westliche Tanz will was Besseres sein und strebt nach dem Erhabenen, und hätte er seine Methoden auch noch so energisch ernüchtert und zur Vernunft gebracht. Er kommt, ob er will oder nicht, vom Ballerinentum der himmellangen Beine her. Der Butoh ist dagegen der Partisan der Erdenwürmer, also unseresgleichen. Der Butoh zieht sich mit dem gefährdeten Leben zurück in die Abgeschiedenheit, dorthin, wo es zäh und unaustilgbar ist wie Moos; der Butoh liebt die vegetativen Reflexe, das Zittern des Espenlaubs und die neuronalen Kriechströme, die den bedrängten Körper zur Wurzel krümmen. Ko Murobushi zum Beispiel, der große Tänzer, zitterte, bebte einen Abend lang und schnellte von einem Starrkrampf in den andern, und doch rührte nie eine Hand an die andere, nie schloß sich der Körper kurz. Es war, als hätte er Angst vor der Entladung. Alle Gewalten, die ihn ihm wirken mochten, brachte er im Verborgenen zur Implosion und entzog sie so unsrer Verwertung. Wo soll das hinführen? So macht der Butoh, daß unser guter alter Körper doch noch einmal aller Beunruhigung fähig wird. Wahrhaftig, der Butoh ist so etwas wie die ursprüngliche Akkumulation der Raserei.

Ein verwandtes Wunder bewirkten Kazuo Ohno und sein Sohn Yoshito am Anfang des Festivals: Da sahen wir, wie lehrreich und bezaubernd die Lebensweise selbst eines Teetischchens sein kann. Wer klug ist, läßt sich von ihm die Hölzernheit beibringen. Wer listig ist, erlernt schon mal wie im Schlaf die neuen Lebensformen des Reisigs oder der Kieselsteine. Sie finden sich in jenen Gegenden der Natur, wo wir alten Abzocker bloß noch unsere Metaphern schürfen. Weil der Butoh das geringste Leben noch ernst nimmt, tut er rein gar nicht mehr, als ob. Er ist für keinerlei Bedeutungsträgerschaft mehr zu haben.

Das Festival bot Material für verblüffende Entdeckungen. Jeder Tanz, sobald er sich aufraffte und doch wieder anfing zu bedeuten, wurde öd und leer. Mitsuru Sasaki, sonst ein enormer Tänzer, machte nach einer Viertelstunde rebellischer Unnahbarkeit die Glotze an und bewegte sich passend zu Kriegsbildern. Fortan sah jedes Händereiben wie „Waschen“ aus und jedes Waschen wie „in Unschuld“, und jedem Schulterruckeln mußte man pazifistische Ambitionen zutrauen, und man fragte sich, warum er nicht sagt, was er meint.

Oder Carlotta Ikeda mit ihrer Compagnie Ariadone: Da hatten wir lange, lange gestaunt und gegluckst über lautlos schnatternde Körper und andere Beglückung, bis plötzlich gegen Ende die Tänzerinnen sich erhoben und sich sehnenden Blicks himmelwärts wandten und ein Finale zelebrierten, welches uns einbläute, daß der Weg per aspera ad astra zu gehen hat und daß, was uns vorher irrtümlich so gefallen hatte, bloß die niederen Stadien gewesen waren. So erniedrigt man den Körper zu einem physikalischen Anschauungsmodell und das Publikum zu einer Schulklasse.

Der westliche Tanz in seiner Not wird, um seine Seriosiät gegen das Theater zu beweisen, immer seine Aussagen machen wollen. Er behandelt den Körper als Darsteller, der leider keine Stimme hat, so daß man ihm, was er nicht sagen kann, eben ablesen muß. Auch im Festival sind also, entsprechend dem gebräuchlichen Wimpelalphabet, unentwegt Bedeutungen gehißt worden. Das nährt die Hoffnung, daß der Butoh,

hierhin bitte den Tänzer

im Mantel

Auf dem Festival: Mitsuru Sasaki

hierhin bitte die alte Frau

die auf dem Boden sitzt

Auf dem Festival: Kazuo Ohno

dieser auf gut Japanisch gerade noch kontrollierte Veitstanz, diesen westlichen Gepflogenheiten nicht einzuverleiben ist. Die meisten Versuche nahmen sich jedenfalls komisch aus: Eingeknickte Knie, krampfige Hände, aber alles bloß für einen guten Zweck. Was der Butoh gleichmütig liebt, das Dunkle, der Tod, das Häßliche, alles das erscheint bei den Epigonen begütigt, also wie in Gänsefüßchen: „Je nun“, erfahren wir, „sowas gibt's, aber ideal ist das nicht“.

Der Anspruch eines Festivals bemißt sich daran, wen man über die Schwelle läßt. Daß eine Tänzerin, der zu ihren japanischen Vorbildern nur eingefallen ist, sich „Mikado“ zu nennen, ihre verkorkste Jazzgymnastik vollführen konnte, das wird die größeren Kollegen doch ein wenig gekränkt haben.

Die aber haben uns für den Quatsch fürstlich entschädigt: Wie sich ein Bein spannt, bis es klingt; wie man in einer Hand hundert zerstrittene Kräfte loslassen kann und doch ein elegantes Winken draus macht; wie Kazuo Ohno einen Straußenwalzer tanzt — alles das haben wir gesehen. Dem veranstaltenden Freiraum-Theater ist dafür schwer zu danken. Manfred Dworschak