INTERVIEW
: „Eine neue Ideologie ist für uns nicht mehr denkbar“

■ Ein Aussteiger aus dem „Bewaffneten Kampf“ Italiens über die schwierige Rückkehr zu den ursprünglichen Werten

Riccardo S., 43, gehörte in den 70er Jahren zur oberitalienischen „Prima linea“. Nach deren Zerschlagung näherte er sich dem „Partito comunisti combattenti“ an, lieferte dann aber spontan seine Waffen in einer unteritalienischen Kirche ab und gab den Behörden Hinweise auf beabsichtigte Attentate. Er lebt seither unter neuer Identität außerhalb Italiens.

taz: In Deutschland hat zumindest ein Teil der ehemaligen Rote Armee Fraktion den Kampf als „vorläufig eingestellt“ bezeichnet. Diskutierst du mit deinen ehemaligen Genossen oder mit Freunden über diesen Schritt?

Riccardo S.: Sehr selten. Nicht, daß ich nicht möchte, aber wenn ich hier meine neue Identität wahren will, darf ich kein besonderes Interesse an so etwas zeigen. Mit alten Freunden habe ich hier im Ausland nur wenig Kontakt, auch aus Sicherheitsgründen. Also kann ich allenfalls mit meiner Frau darüber sprechen. Allerdings habe ich jüngst in Paris mit ehemaligen Mitgliedern von „Autonomia operaia“ über die Sache gesprochen. Es gab mehr oder minder höhnisches Gelächter, daß die Deutschen so spät auch schon draufkommen, daß da nichts mehr geht.

Wie interpretierst du selbst diesen Schritt?

Anders als die Pariser Freunde. Die deutsche RAF gibt die Waffen in einem Augenblick ab, wo sie mit der Ermordung hoher Manager und Funktionäre immerhin noch Lebenszeichen gegeben hat, und die Polizei zumindest den gegenwärtig Aktiven nicht allzu dicht auf den Fersen ist. Wir hier in Italien haben die Waffen weggeworfen, als wir bereits voll mit dem Rücken zur Wand standen. Der Carabinieri-General dalla Chiesa hatte uns aufgesprengt, unsere Attentate erreichten gerade noch einen völlig ungeschützten Gewerkschaftsprofessor oder einen Berater des Ministerpräsidenten.

Hattet ihr den Entschluß zur Aufgabe intern diskutiert?

Wir hatten damals nicht die Wahl, nächtelang zu diskutieren. Jeder von uns war so gehetzt, daß das Überleben von einer Stunde zur anderen im Vordergrund stand. Spätestens seit Mitte der 80er Jahre konnte man, selbst wenn man einige Zeit beisammen war, kaum mehr ruhig reden, weil jeder mit einem Ohr immer auf die Geräusche von außen lauschte. Die einzigen, die das einigermaßen abklären konnten, waren die Genossen im Gefängnis — bei denen war im Grunde die Sicherheit vorhanden, die uns außerhalb des Gefängnisses fehlte. Da in Italien die Häftlinge ohne große Einschränkungen zusammenkommen dürfen, waren die drinnen ideologisch viel weiter als wir in der Freiheit.

Eine Reihe von euch ist nach der Entlassung aus dem Gefängnis in den kirchlichen Sozialdienst getreten. Hatte der Entschluß, die Waffen zumeist an Kirchen zu senden, von vornherein etwas mit neuer Religiosität zu tun?

Auch das muß man unromantisch sehen. Von einigen — übrigens nicht sehr vielen — hohen Kirchenmännern, etwa dem Kardinal von Mailand und dem Bischof von Acerra, war schon früh während des „Bewaffneten Kampfes“ ein großes Verständnis für unsere ursprünglichen Motive ausgegangen. Von daher waren diese Leute sozusagen natürliche Ansprechpartner für uns. Es gab aber auch rein pragmatische Motive. Einige von uns haben sich in Klöstern versteckt, weil die dort niemanden anzeigen, und bereiteten sich so auf den Ausstieg und den Knast vor. Dazu kommt, daß die Kirchenfrauen und -männer eine gewisse Immunität in der italienischen Gesellschaft besitzen: Man konnte über sie — speziell wenn man sie zunächst über eine Beichte ansprach, was ja geheim bleibt — auch Kontakte zu anderen Genossen aufbauen. Aber es gab sicherlich auch für viele eine Art Rückkehr zu den christlichen Werten der Kindheit. Speziell diejenigen von uns, die getötet oder dabei mitgeholfen hatten, suchten nach Wegen, das Nichtwiedergutmachtbare irgendwie zu kompensieren.

Eine Art Ersatzideologie also — die pazifistisch-soziale Doktrin des Glaubens gegen den revolutionären Gang der Geschichte?

Das ist beides zu hoch gegriffen. Viele von uns, die seinerzeit zur Knarre gegriffen haben, waren keineswegs überzeugte oder Che-Guevara-feste Ideologieträger. Viele haben mitgemacht, weil der Freund oder die Freundin dabei war, vielen hat es Spaß gemacht, die Mächtigen anzupinkeln und später anzuschießen. Genauso ist es nun umgekehrt der eher kindliche Glauben, der uns hilft, unsere im Rückblick oft unüberlegten oder, schlimmer noch, grausam geplanten Taten zu verdrängen. Eine neue Ideologie hat wohl keiner von uns. Allerdings steht bei den meisten der Wert des Helfens noch immer im Vordergrund — wie schon vor dem Bewaffneten Kampf. Insofern ist sicher ein „Zurück-zu-den-Ursprüngen“ zu erkennen, das aufrichtig ist und nicht nur der Verdrängung dient.

Das Gespräch fand im Auftrag der taz in einem französischen Grenzort statt.