Dem Kapital „Tierra y Libertad“

Mexikos Bauerngenossenschaften, Erbe der Revolution von 1917, werden abgeschafft  ■ VON JOHANNES WERNER

Mexiko-Stadt. Tränenselige „Ranchera“- Trompetenklänge. Eine sanfte, aber bestimmte Männerstimme überdeckt die populäre Melodie: „Es ist Zeit zur Veränderung. Auch auf dem Land.“

Mit solchen Radio-Spots wirbt die mexikanische Regierung unter Carlos Salinas de Gortari für ihre „Neue Agrarreform“: Die Änderung des Verfassungsartikels 27 im vergangenen Dezember und die Verabschiedung des dazugehörenden Rahmengesetzes Ende Februar hat die nach der mexikanischen Revolution vor mehr als 70 Jahren begonnene Landverteilung gestoppt und ist nun im Begriff, die gesamte postrevolutionäre Landwirtschaft umzukrempeln.

Die Reaktionen auf diese „Reform der Jahrhundertreform“ sind geteilt. Die angesehene Wirtschaftszeitschrift 'Expansion‘ jubelte über den „Bruch des Mythos“ einer sozial orientierten Landwirtschaft, der linke Oppositionsabgeordnete Jorge Moscoso trauert über den „Bruch der Verfassung“ und des revolutionären Sozialpakts. Der fortschrittliche Artikel 27 der Verfassung von 1917 war eines der wenigen greifbaren Ergebnisse der Revolution. Haben also die über eine Million Toten der Revolution, die für „Tierra y Libertad“ gekämpft haben, ihr Leben umsonst gelassen?

Mittelklasse gesucht

„Die ,Neue Agrarreform‘ wird eine Etappe der Agrarreform beenden und eine neue einleiten“, insistiert Luis Téllez Kuenzler; der junge Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium war die Hauptfigur bei der Umformulierung des Artikels27. „Die Revolution hat den Campesinos Gerechtigkeit verschafft“, sekundiert ihm der Agrarspezialist Victor Manzanilla Schaffer, 67 Jahre alt, 41 davon aktives Mitglied der seit 1928 regierenden Staatspartei „Partido de la Revolución Institucionalizada“ (PRI). „Die Revolution wurde jedoch nicht gemacht, um ein Proletariat zu erhalten. Die revolutionäre Landreform und die dabei entstandenen drei Besitzformen [„Ejido“-Genossenschaften, gemeinsames Kommunalland, Kleinbesitz — d.V.] sind zwar nicht gescheitert, aber steckengeblieben und können sich nicht mehr weiterentwickeln. Deshalb muß mit der Verteilung jetzt Schluß gemacht und die Chance zur Entwicklung einer bäuerlichen Mittelklasse ergriffen werden.“

Hauptgrund für die Erneuerungsbemühungen auf dem Land seitens der Regierung ist der in wenigen Jahren eintretende Freihandel mit den Getreide- und Milchriesen USA und Kanada: „Die hohen Produktionskosten der mexikanischen Landwirtschaft im internationalen Vergleich können den Ruin der nationalen Produzenten herbeiführen“, argumentiert José Luis Diaz Möll, Beobachter der mexikanischen Freihandels- Kommission für den „Ständigen Landwirtschaftsrat“ (CAP).

„Die Bauern brauchen keine Tutoren mehr, die oft gleichzeitig ihre Ausbeuter gewesen waren“, hieb nach der Verabschiedung des Rahmengesetzes durch den Kongreß der Staatspräsident persönlich auf das patriarchalische Verhältnis zwischen Bauern und staatlicher Landgewerkschaft CNC und die Selbstherrlichkeit der Ejido-Kommissare ein. Selbstverantwortliche Bauern, meint Manzanilla, werden bald auch politisch unabhängiger agieren und demokratischere Alternativen suchen, die autoritäre PRI wird an Einfluß verlieren.

Ein weiteres Geschütz führt Federico Reyes Heroles auf: die Reform, so der einflußreiche Historiker in einem Kommentar der Tageszeitung 'La Jornada‘, kann „unserer Kultur der Zerstörung“ Einhalt gebieten und einen ökologisch verantwortlicheren Umgang mit dem Land ermöglichen. Mit neuer Technologie, die die bisher übliche Brandreinigung nach der Ernte überflüssig macht, und Schutzgesetzen für den Wald werde der Erosion Einhalt geboten, die schon 80Prozent des mexikanischen Territoriums erfaßt hat.

Privat statt kommunal

In weiten Teilen des Landes sind die Mittelklasse-Pläne der Regierung jedoch noch Lichtjahre von der bäuerlichen Subsistenz-Realität entfernt. Für den Vorsitzenden des „Nationalen Dachverbandes der Indianischen Völker“, Genaro Dominguez, steht nicht die Produktivität, sondern nach wie vor die Landfrage im Vordergrund. Die von Salinas versprochenen schnellen Entscheidungen bei Landkonflikten und die vom reformierten Artikel27 garantierte Unverletzlichkeit der indianischen Gemeindegrenzen sind für ihn „kein Allheilmittel für die Probleme der mexikanischen Bauern; die Entscheidungen werden zugunsten der Reicheren fallen“. Weil sie ihr Land verteidigt haben, liegen gegen 5.000 Indios Haftbefehle vor, viele werden immer noch mit dem Leben bedroht. Wenn diese Situation weiterbestehe, so Dominguez, „werden die Macheten aufs Feld zurückkehren“.

Die „Neue Agrarreform“ stoppt die Landverteilungen ein für allemal und öffnet die Ejidos und den gemeinsamen kommunalen Landbesitz der Privatinitiative. Das Landreformministerium wurde aufgelöst, ein neugegründetes Bundeslandwirtschafts-Gericht (Tribunal Superior Agrario) bearbeitet seit dem 9.April statt dessen die aufgehäuften Besitz- und Besitzgrenzen-Konflikte. Der veränderte Artikel27 betont die Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Bauern. Die Ejidatarios sind nun Eigentümer des Bodens, den sie bearbeiten, und sie können — bei Einverständnis der anderen Genossenschaftler und (männlichen) Familienmitglieder — ihr Land verkaufen. Joint Ventures der Minifundistas und Ejidos mit Unternehmern — auch Ausländern — sind jetzt erlaubt; jede dieser Produktions-Gesellschaften mit maximal 25 Mitgliedern darf bis zu 2.500 Hektar Qualitätsland bearbeiten. Damit wird eine schon bestehende Realität legitimiert: Trotz des Verbots, Ejido- Land zu verpachten, waren 1990, laut offizieller Statistik, rund 59,5Prozent des Ejido-Bodens gegen Geld oder Naturalien vermietet.

Der Landwirtschaftsminister Carlos Hank González hat das Fördersystem, das bisher fast ausschließlich um die korruptionsverdächtige staatliche Entwicklungsbank Banrural kreiste, dreigeteilt: Die populistische Sozialhilfemaßnahme „Nationales Programm der Solidarität“ (Pronasol) wird nun für die „bedürftigen“ Subsistenz-Campesinos zuständig, Banrural schießt Bauern und Ejidos mit machbaren Marktplänen Geld vor, Privatbanken sollen die kommerziellen Joint Ventures finanzieren.

Die bäuerliche Zweiklassengesellschaft in Mexiko hat sich dadurch schnell weiterentwickelt. Einerseits wurden bereits 419.000 Bauern und Genossenschaften mit der Überführung ihrer unbezahlten Banrural- Schulden ans Pronasol zu „Sozialfällen“ deklariert, andererseits entstehen täglich neue Joint-Ventures-Unternehmen zwischen Genossenschaften und Privatkapital. Schon im Dezember 1991 konnte das Landwirtschaftsministerium (SARH) 45 vielversprechende Projekte vorweisen, für 1992 erwartet der für die Joint Ventures zuständige SARH- Staatssekretär Gustavo Gordillo 40 weitere Verträge.

Zurück zur Hacienda?

Die Unternehmer haben die Chance der Reform schnell ergriffen. Herausragende Kooperationsverträge mit Ejidos konnten bisher die Weinkellerei Domecq, der Backwaren- Riese Bimbo und der Gemüse-Multi Gigante Verde abschließen. So viele mexikanische Agro-Industrielle wie noch nie haben im vergangenen Halbjahr die großen europäischen Landwirtschaftsmessen in Barcelona, Köln und Berlin besucht, um Exportchancen auszuloten. Für die mexikanischen Unternehmer hat Anfang April die EG eigens ein Hilfsprogramm auf die Beine gestellt, das Technologietransfer und Investitionen europäischer Firmen ankurbeln soll.

Gegen die Möglichkeit, daß die Campesinos von geschickten Unternehmern über den Tisch gezogen werden und eine Wiedergeburt des Großgrundbesitzes stattfindet, setzt der Landwirtschaftsminister Carlos Hank González nicht viel mehr als seinen Glauben: „Hoffentlich wird keine einzige Parzelle unserer nationalen Landwirtschaft verkauft; aber das hängt jetzt von der ausschließlichen Entscheidung ihrer Besitzer ab.“ Bei einer Werbe-Tour durch Yucatán bat der Minister die örtlichen Unternehmer inständig, die Genossenschaften nicht auszubeuten.

Reformer wie Téllez Kuenzler halten eine Renaissance der Haciendas für wirtschaftlich unwahrscheinlich. „Kein Unternehmen oder Mensch wird enorme Ländereien bei heute steigenden Preisen aufkaufen und investiert dann stratosphärische Summen, um sie, bei den bekannten Risiken im Landwirtschafts-Geschäft, produktiv werden zu lassen.“ Ein Investitionsvolumen wie das des Computergiganten IBM de Mexico, meint Téllez, sei zur Inbetriebnahme einer Hacienda nötig.

Die bisher im Joint-Venture-Geschäft tätigen Ejidatarios scheinen jedenfalls zufrieden zu sein: eines der Kooperations-Schaustücke, das Projekt „Vaquerias“ im nördlichen Bundesstaat Nuevo León, hat im ersten Agrarzyklus einen 56prozentigen Profit abgeworfen. Jeder der 336 beteiligten Genossenschafter konnte das Vierfache des gesetzlichen Minimallohns einstecken.

Die Campesinos aus der reicheren, marktorientierten und technisierten Landwirtschaft im Norden befürworten offensichtlich im allgemeinen die Reform. Eine einzige Bitte wird häufiger geäußert: Die Straßen sollten verbessert werden, damit die Produkte schneller die Märkte erreichen.

Der Löwenanteil der marktorientierten Unternehmungen konzentriert sich allerdings auf die schon entwickelten Landesteile, nur ein einziges Projekt wurde bisher im armen Süden realisiert. Viele unabhängige Landgewerkschaften lehnen deshalb die Neuerungen ab. Unter dem Motto „¡Zapata vive!“ haben sich die im „Movimiento Nacional de Resistencia y Lucha Campesina“ (MONARCA) zusammengeschlossenen, meist linksunabhängigen Gewerkschaften mit dem „Plan de Anenecuilco“ gegen die Kommerzialisierung der Landwirtschaft ausgesprochen.

„Die Privatisierungsoffensive“, kritisiert eine Pressemitteilung des MONARCA, „ist ein Angriff gegen demokratische und fortschrittliche Traditionen, zerstört schrittweise den genossenschaftlichen und kommunalen Landbesitz, stoppt die Landverteilung, obwohl sie noch lange nicht beendet ist, fördert den Großgrundbesitz, erlaubt ausländischem Kapital Landbesitz und droht die Bauern zu Landarbeitern zu degradieren.“

Die linksoppositionelle „Partido de la Revolución Democratica“ (PRD) unterstützt die protestierenden Bauern: Nicht die Eigentumsform, so der Ex-Präsidentschaftskandidat Cuauhtémoc Cárdenas, sei Ursache der mexikanischen Agrarkrise, sondern die zu geringe Investition der öffentlichen Hand in die Landwirtschaft.

Die vorige und jetzige Regierung hat in der Tat die Ausgaben für landwirtschaftliche Entwicklung 1992 auf weniger als die Hälfte der Ausgaben von 1980 gekürzt.

Viele der Campesinos bemängeln zudem die Art, in der die Reform zustandekam. Kleinbauern und Indiogemeinden seien, erklärt Genaro Dominguez, trotz gegenteiliger Versprechungen nicht angehört worden — eine Kritik, die von fast allen unabhängigen Bauerngewerkschaften geäußert wird.

Gespaltene Bauern

Die Bauern sind jedoch, wie MONARCA selbst beklagt, gespalten. Der staatlichen Bauerngewerkschaft „Central Nacional Campesina“ (CNC) ist es gelungen, fast alle mittelständischen Bauernvereinigungen mit einem gemeinsamen Statement im „Plan de Veracruz“ hinter die Reform zu bringen.

Die CNC selbst wurde natürlich von ihren Führern sofort für die Reform mobilisiert. Ihr Generalsekretär Maximiliano Silerio Esparza war sogar einer ihrer Impulsgeber, wofür er mittlerweile mit der Gouverneurskandidatur von Durango belohnt wurde. Außerdem bildete die Regierung, der mexikanischen Tradition der Kompromisse folgend, ein Verhandlungsforum, den „Acuerdo Nacional para la Reforma Campesina“, unter der Obhut des Arbeitsministeriums.

Die sozialen Aspekte der Reform tun ihr übriges, die Bauernschaft zu spalten. Der neue Artikel27 erhebt Ejido und gemeinsamen kommunalen Landbesitz in Verfassungsrang, die Genossenschaften und Minifundien bis zu 100 Hektar werden nach wie vor als „agricultores del sector social“ definiert und deshalb als Pronasol- und Banrural-förderberechtigt eingestuft. Eine neugegründete „Procuraduria Agraria“ unter dem angesehenen Ex-Chef des Nationalen Indianer-Instituts (INI), Arturo Warman, soll die Interessen der Ejidatariois und Kleinbauern gegenüber Beamten und Unternehmern verteidigen.

Die langfristigen Pläne der Reformer können den Campesinos jedoch nicht gefallen — sie gehen nämlich gegen ihre Existenz. Ende März umriß Roberto Servitje, Präsident des „Bimbo“-Konsortiums, die Hoffnungen der Unternehmer: Eines der Modernisierungs-Hindernisse für Mexiko sei der „zu hohe Anteil der Landbevölkerung“, „während in anderen Ländern zwischen sieben und zehn Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt sind, beläuft sich der Anteil bei uns auf 35Prozent.“ Eine erfolgreich rationalisierte Landwirtschaft, meint Servitje, wird weniger Menschen auf dem Land Arbeit bieten, die Bauern müssen sich eine neue Beschäftigung suchen.

Die Politiker und Beamten weisen diese Utopie nicht von sich — im Gegenteil: Sie beschwören sogar offenen Auges eine neue Migrationswelle vom Land in die Städte herauf, kaum daß das Wachstum der größten Stadt der Welt, Mexiko City, etwas nachgelassen hat. „Ganz klar wird sich der Urbanisierungsprozeß in der gesamten Republik beschleunigen“, erklärt Manzanilla. Einen Plan, der die abzusehende zweite Landflucht dirigiert, hat noch keiner der Reformer entwickelt.