Man kann Marx auch ohne dogmatische Brille lesen

■ An der Freien Universität wird das »Kapital« studiert und mit neuen Erfahrungen abgeglichen/ Professor Haug, der seit zwanzig Jahren das Seminar leitet, mußte sich selbst korrigieren/ Fester Bestandteil des philosophischen Programms/ Über hundert Teilnehmer, darunter Studenten aus der Ex-DDR

Dahlem. Verschiedenen Prophezeiungen zum Trotz wird Marx weiterhin gelesen und diskutiert. Auch an einem Ort, den der damals 23jährige Doktor der Philosophie wegen der reaktionären Politik des preußischen Staates verließ: der Universität. Im Sommersemester findet an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Wolfgang Fritz Haug ein Kurs zum Kapital, dem wissenschaftlichen Hauptwerk von Marx, statt. Mehr als hundert StudentInnen nehmen daran teil.

Der Kapital-Kurs ist zum festen Bestandteil des philosophischen Programms der FU geworden. Er findet bereits seit über 20 Jahren statt. 1971, während einer einsemestrigen Gastprofessur in Marburg, setzte sich Haug zum ersten Mal mit StudentInnen zusammen, um das Kapital zu studieren. Zurück in Berlin, wurde dieser Kurs zu einer regelmäßigen Einrichtung. »Beim ersten Kurs wollten über 500 StudentInnen teilnehmen«, erinnert sich Haug.

Doch geändert hat sich inzwischen viel. Am gravierendsten durch den Einsturz des sozialistischen Staatengebäudes in Osteuropa. Dieser »Geschichtsbruch« hätte es unmöglich gemacht, sich in gleicher Weise wie vorher mit Marx zu beschäftigen, so Haug in der ersten Vorlesung. Verschiedene Teile seiner Theorie hätten sich als inpraktikabel erwiesen. Die Zuhörenden erhielten auch gleich eine Kostprobe: Institutionelle Vermittlungsstrukturen wie Parlament, Verfassungsgericht oder Einrichtungen im sozialen Bereich sind nach Marx letztendlich überflüssig. Doch in diesem harmlos-utopischen Gedanken stecke, so Haug, die Möglichkeit grausamer Gewalt, wie es ein Stalin-Regime gezeigt hätte. »Ohne diese vermittelnden Institutionen ist ein Miteinander- Leben nicht möglich.« Doch die Kritik endet nicht bei Marx. Für Haug heißt dies auch Selbstkritik und Revision eigener Positionen. Einiges von dem, was er noch vor zehn Jahren sagte, könne er heute nicht mehr vertreten.

Haug benutzt für seine Vorlesung sehr unterschiedliche Materialien. Der Besuch eines Brecht-Stücks in der Theatermanufaktur am Halleschen Ufer und Filmvorführungen gehören genauso dazu wie die Lektüre verschiedener Texte. Parallel zur Vorlesung betreiben Kleingruppen intensive Textlektüre. Seite für Seite wird die »Kritik der politischen Ökonomie« — so der Untertitel des Kapitals — durchgegangen, um die Mechanismen des Marktes zu durchleuchten. Unbezahlte TutorInnen leiten die Gruppen. »Für solch einen Kurs«, meinte einer von ihnen, »rückt das philosophische Seminar bei der ohnehin herrschenden Geldknappheit keinen Pfennig heraus.«

Die Zusammensetzung der TeilnehmerInnen ist bunt gemischt. Jura-, Psychologie-, Elektrotechnik- und andere Vorlesungen stehen ansonsten auf ihrem Programm. Auch einige frustrierte VolkswirtschaftlerInnen sind mit von der Partie. StudentInnen aus der Ex-DDR sitzen ebenfalls in der Veranstaltung. Sie wollen die »Pflichtlektüre eines jeden DDR-Studenten« auf eine andere Art lesen — ohne die Brille des parteilichen Dogmatismus.

Und die Gründe für die anderen? Einige wollen wie Haug den Versuch einer Neuvergewisserung unternehmen. Andere sind interessiert an einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus. »Denn heute«, so eine Studentin, »ist Kapitalismuskritik so notwendig wie niemals zuvor.« Wie ein »Kochbuch« will er das Kapital lesen, sagt ein Student, um konkrete Handlungsrezepte für sein Engagement in einem besetzten Haus zu bekommen.

Neben diesen eher politischen Gründen zur Teilnahme an der Veranstaltung stehen vage formulierte Interessen von StudentInnen, die Marx »einfach kennenlernen« wollen. Es würde momentan viel über ihn gesprochen, meinen sie, und da wäre es an der Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Christof Hamann